„SchülerInnen lernen, nichts wert zu sein“

■ Was läuft falsch an Bremens Schulen und in der Politik? Neue Wege aus der Bildungsmisere weist Johannes Beck, Pädagogik-Professor an der Bremer Universität

ohannes Beck mischt sich in die aktuelle Bildungsdiskussion ein. Er hat sich einen Namen als provokativer, praxisbezogener Pädagoge gemacht. Mit seinen Idee knüpft er an reformpädagogische Ansätze aus den zwanziger Jahren an. Statt Wissen anzuhäufen, sollten SchülerInnen kooperative Arbeitsformen lernen und sich ihr Wissen in Zusammenhängen und sozialen Bezügen erarbeiten, lautet seine These.

taz: Was können Bremer SchülerInnen aus der aktuellen, politischen Bildungsdiskussion lernen?

Johannes Beck: Als ein Ergebnis des heimlichen Lehrplanes müssen die Kinder erkennen, daß sie nichts wert sind.

Wie könnte man direkt helfen?

Man muß Geld, Ideen und Phantasie in das Schulsystem investieren. Man kann Dinge verwirklichen, die nicht nur an Geld gebunden sind, sondern an die Motivation von allen Beteiligten.

Ein Beispiel?

Manche Schulen sehen aus wie Trümmerhaufen. In was für einer Umgebung sollen wir unsere Phantasie und unseren Intellekt entfalten? Es müssen in und um die Schulen Lernumgebungen geschaffen werden, in denen es Spaß macht zu lernen. Lust auf Lernen muß entstehen können. Das ist keine Aufgabe für Designer, die schöne Wände entwerfen, an denen man nichts machen darf. In meiner Phantasie sind Schulen Laboratorien, Werkstätten, in denen frei verfügbar ist, was man zum Lernen braucht. In einem Klassenraum ist in einer Ecke eine Möglichkeit, Tee zu kochen, in einer anderen sind Computer, in einer anderen eine Bibliothek. Wenn alle Stühle in geistiger Marschordnung stehen, ist das eine Lernvollzugsanstalt. In solch einem Raum lernt man zu sitzen und zu stören.

In Bremen hat man den Eindruck, daß traditionelle Schulsystem mit Haupt- und Realschule und Gymnasium soll festgezurrt werden. Ist das zeitgemäß?

Das ist überhaupt nicht mehr zeitgemäß. Wenn man die Diskussion wissenschaftlich führt, dann gibt es überhaupt keine Argumente für das dreigliedrige, traditionelle Klassenschulsystem.

Es gibt den Widerspruch zwischen Leistungsorientierung und sozialer Selektion einerseits sowie gemeinschaftli-chem, solidarischen Lernen andererseits.

Wir können eine hohe Leistungsdifferenzierung auch innerhalb von gemeinsamen Schulen erreichen. Wenn Kinder anderen etwas beibringen, selber zu Lehrenden werden, dann lernen sie Sinnvolleres und Wichtigeres als in einem Leistungskurs. Wenn die Menschen allein nach ihrem Wissen beurteilt werden, bleibt Sozialität auf der Strecke.

Wie lernt man Sozialität?

Wir müßten in Bremen eine Diskussion darüber entfachen, was wir unter Leistung verstehen wollen. Ich bin nicht gegen Leistung. Ich frage mich aber, ob man Leistung nur so bemessen kann, ob einer einen Kurs x belegt hat und da möglichst viele Punkte ergattert hat. Oder ob Leistungen auch in ganz anderen Bereichen, in künstlerischen oder sozialen Bereichen erbracht und gefördert werden sollen und können.

Muß man denn wissen, wann der dreißigjährige Krtieg war?

Manchmal ist das gar nicht so schlecht. Aber wichtiger als ein Kanon von Daten wäre es ein exemplarisches Projekt über den dreißigjährigen Krieg. Da ergeben sich dann aus der Sache Verbindungen, etwa zur Renaissace oder zum übrigen historischen Umfeld.

Ist die Form, wie man lernt, nicht auch wichtig?

Die Fähigkeit „Lernen“zu lernen und die soziale Fähigkeit, zusammen zu arbeiten, das sind ganz wichtige Ziele. Die heutige Schule definiert das zwar auch für sich als Lernziel. Gleichzeitig dividiert sie SchülerInnen über Noten wieder auseinander und macht sie zu Konkurrenten.

Gibt es nicht einen zweiten Widerspruch. Einmal muß Schule für den Beruf qualifizieren, zum anderen gilt noch das klassische, humanistische Bildungsideal.

Berufsvorbereitung in Schulen ist deswegen schon fragwürdig, weil viele Schulabsolventen gar keinen Beruf mehr kriegen. Wir müssen fragen, was brauchen die Menschen heute um etwa demokratiefähig zu sein? Was brauchen wir, um mit Brüchen unserer persönlichen Entwicklung fertig werden zu können? In der Ausbildung lernen wir vornehmlich, wie kann ich meinen Nachbarn am besten ausstechen? Die Schule als nicht kommerzialisierter Ort hat immer noch die Möglichkeit andere Perspektiven zur Menschlichkeit zu vermitteln, als es beispielsweise ein Unternehmen tut.

Glauben Sie, daß es einen gesellschaftlichen Spielraum zur Veränderung gibt?

Begrenzt ist er vorhanden. Gut, unsere Bildungspolitiker sagen zwar, wir würden gerne eine tolle Pädagogik machen, aber es ist kein Geld da. Es sind aber doch die Menschen, die die Gesellschaft machen.

Die PolitikerInnen lügen?

Die Kassen der Politiker sind vielleicht leer. Ich kenne Kassen, die nicht leer sind. Es hat offensichtlich eine gewaltige Umverteilung von Geld stattgefunden. Politiker sollten nicht sagen, es sei kein Geld für öffentliche Haushalte da, sie sollten sagen, was sie gemacht haben, daß öffentliche Kassen leer sind.

Kann Mangel nicht auch eine Chance für Kreativität sein?

Ich bin nicht bereit, eine Verarmung der Öffentlichkeit zu glorifizieren. Aber ich will meine Welt jetzt gestalten.

Gibt es heute kreative Ansätze, neue pädagogische Wege zu beschreiten?

Wir müssen uns klar machen, wo Bildung überhaupt stattfindet. Bis jetzt haben wir nur über Schule geredet. Überall findet Lernen statt. Das meiste, was Menschen so jeden Tag lernen, ist, einfach so vor sich hin zu leben. Die Dinge selbst sind heute die eigentlichen Lehrer, die sogenannten Sachzwänge und die Interpreten dieses Systems. Die wichtigsten Lehrer sind Ratgeber und Gebrauchsanweisungen. Gemessen am Verbrauch von Ratgeberbüchern, gibt es in Deutschland ein riesiges Bildungsbedürfnis. Bildungsinstitutionen haben die Möglichkeit die allgemeine Hilflosigkeit zu verstärken, oder sie begreifen sich als eigene Realität.

Was heißt das?

Wenn Schule zum Beispiel begriffe, daß sich jeden Tag Kinder eines Bezirkes zu einer Vollversammlung träfen, dann wäre schon was möglich. Was kann da passieren? Die Kinder erkennen, sie haben einen Versammlungsort. Der mag zur Zeit noch schäbig sein, aber es ist ihr Versammlungsort. Was könnte man in Werkstätten, Klassenzimmern, Turnhallen noch machen außer 45 Minutenbrocken abzusitzen. Am Nachmittag sind Schulhöfe öde. Riesige Flächen verkommen und könnten doch gestaltet werden. In jedem Stadtteil könnten in Schulen Kulturzentren entstehen. Es muß möglich sein, Schule stärker ins kommunale Leben einzubeziehen.

Fragen: Thomas Schumacher