Das ulmische Gefühl

In dieser Stadt ist etwas anders. Heute schwört der Bürgermeister ohne Vorbehalt, gemein zu sein  ■ Von Philipp Maußhardt

Doch, doch, Ulm ist eine Großstadt. Zwischen der Stadtsparkasse und dem Rathaus hat die Neue Straße auf 50 Meter Länge sieben Fahrspuren. Eine mehr als die Constitution Avenue in Washington. Nicht leicht, bei Rot da drüber zu kommen. Der Rest sind Gassen: Kornhausgasse, Schwörhausgasse, Hafengasse mit Fachwerkhäusern, von denen die amerikanischen Tagestouristen nicht nur sagen, die wären „old“, sondern „very old“. Hier wohnen einhundertzwölftausendfünfhundertneunundzwanzig Einwohner, und wer nur durch Zufall am heutigen Montag dort sein sollte, der muß glauben: Die Ulmer haben sie nicht mehr alle. Halbnackte Männer springen kreischend in die Donau, Fabrikdirektoren schicken ihre Belegschaft nach Hause. Und ein Bürgermeister schwört, gemein zu sein.

Dann ist „Schwörmontag“, höchster Feiertag in Ulm. Heuer jährt er sich zum 600. Mal. Damals versprach der Bürgermeister öffentlich ain gemainer man ze sin richen und armen uf alliu gemainiu und redlichiu ding. Das muß man nicht nur der Sprache wegen erklären („Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein in den gleichen gemeinsamen und redlichen Dingen ohne allen Vorbehalt“), sondern auch, weil hier zum ersten Mal die Vorrechte des Stadtadels in einer deutschen Stadt gebrochen wurden. Von diesem Zeitpunkt an waren die Handwerker (Zünfte) gleichberechtigte Bürger. Damit das niemand vergißt, hebt jedes Jahr der Oberbürgermeister vom Balkon des Schwörhauses herunter die Hand zum Schwur. Anschließend geht das Volk nabada. Das ist nicht Arabisch. Das ist Schwäbisch und meint „hinunterbaden“. Johlend hüpfen erwachsene Menschen in die Donau und spritzen sich naß.

Soviel zur deutschen Folklore und genug der Narretei, wäre da nicht noch das andere. Ulm, so scheint es, liegt nicht in Deutschland. Jedenfalls nicht in jenem Krisengebiet, das sich Deutschland nennt. Ulm liegt auf dem Mars. Noch in diesem Jahr wird in Ulm die neue Stadtbibliothek gebaut. Außerdem wird ein neues Freibad gebaut. Und das Museum ausgebaut. Und das Haus der Musik gebaut. Die Straßenbahn wird ausgebaut. Die Umgehungsstraße wird neu gebaut und oberhalb der Donau das neue große Einkaufszentrum gebaut. Sonst noch was? Ach ja, wer kein Geld hat in Ulm, der bekommt dieses Jahr auf dem Rathaus die „Lobby-Card“. Damit kann er in vielen Geschäften billiger einkaufen. Das „Phänomen Ulm“ begegnet uns in Gestalt eines rundlichen Herrn mit Schnauzbart. Ivo Gönner heißt der Oberbürgermeister, und man sagt, er sei ein „bunter Hund“. Obwohl er Sozialdemokrat ist, gewann er vor sechs Jahren auf Anhieb die Wahl. Das war in der konservativen Stadt eigentlich frech. Doch inzwischen kommt sogar der Bundespräsident und gratuliert heute am „Schwörmontag“.

Denn in Ulm wird über leere Kassen nicht geklagt und gejammert – hier wird getagt und gehämmert. Seit Ivo Gönner Oberbürgermeister ist, gibt es auf dem Rathaus die Stelle eines „Zukunftsforschers“, auf deutschen Rathäusern eine eher seltene Stelle. In Zimmer 215 entwirft Walter Laitenberger „Ulm 2000“. An der Wand hängen Referatsthemen eines „Zukunftskongresses“ und vor ihm: Akten, Akten, Akten. Laitenberger ordnet gerade Briefe, in denen ihm Ulmer Bürger oder Ulmer Vereine geschrieben haben, wie sie sich das Jahr 2020 vorstellen. Ein Seniorenkreis orakelt: „...bei gemütlichem Beisammensein Gedanken austauschen“, und der neunjährige Michael meint: „Unser Hausmädchenroboter bringt das Frühstück. Eine Pille ist das Brot. Die Pille für Marmelade ist rot.“ Es gibt aber auch Ernstzunehmendes darunter: Die Architektenkammer denkt über „neue Lebensformen – Herausforderungen an die Architektur“ nach, und der „Eisenbahn- Sport-Club Ulm e.V.“ schlägt vor, Rentner sollten Schülern kostenlos Nachhilfeunterricht erteilen. Doch das Erstaunlichste daran ist die Masse der Wortmeldungen. Wobei sich in Ulm selbst niemand darüber wundert. Daß sich die Bürger für ihre Stadt interessieren, hält man hier für normal und bürgerschaftliches Engagement für das Selbstverständlichste der Welt. Daß ein reicher Chirurgieprofessor einen öffentlichen Kunstpfad sponsert oder der Zementfabrikant das Theater, ist nicht weiter der Rede wert. „Schreiben Sie bitte nichts darüber, ich mag das nicht“, sagt der Zementfabrikant. Vielleicht hat es ja wirklich damit zu tun, daß Ulm einmal eine „Freie Reichsstadt“ war. Nur dem Kaiser untertan – und der war weit weg –, regelten die Ulmer ihre Angelegenheiten selbst. Am 30. Juni 1377 zum Beispiel meinten sie, sie brauchten ein Münster und dazu den höchsten Kirchtum der Welt. Also grub der Bürgermeister ein Loch, und die Ulmer warfen Geld hinein, so viel, bis es reichte, die Steine 161 Meter und 60 Zentimeter hoch aufzutürmen. Kein Kirchturm ist bis heute höher.

Was „Kommunitarismus“ ist, weiß in Ulm kein Mensch. Aber viele Eltern wissen, daß auch sie verantwortlich sind, wie der Schulhof ihrer Kinder aussieht. Also werden zur Zeit an vielen Schulen Bäume gepflanzt, graue Betonwände bunt gestrichen, Platten neu verlegt. Die Stadt gibt ein bißchen Geld dazu. Doch das meiste zahlen die Eltern selbst und arbeiten am Wochenende mit. Vor einem halben Jahr gründete die Stadt eine „Bürgerstiftung“, gab 6 Millionen Mark und forderte zu weiteren Spenden auf. Wie gesagt, kein Ulmer kennt den Kommunitarismus – aber viele spendeten inzwischen. Mit dem Geld werden soziale Projekte unterstützt. Daß die Handelskette „Kaufhalle AG“ ihre Billigwaren an ausgewiesene Sozialhilfeempfänger noch billiger abgibt, gibt es nirgendwo. Nur in Ulm. Der Oberbürgermeister hat die „Lobby-Card“ erfunden, mit der man bei einigen Firmen Sozial- Rabatt bekommt.

Die Probleme der Stadt Ulm sind auch keine anderen wie die von Buxtehude. Die Arbeitslosenquote wächst, die Steuereinnahmen schrumpfen. „Wenn wir noch etwas bewegen wollen“, sagt Gönner, „dann muß sich die Einstellung der Bürger zu ihrer Stadt ändern.“ Wer hat, dem wird genommen. „Mein Gott“, entfährt es ihm – und da klingt ja der ehemalige Juso Gönner durch! –, „es gibt doch noch genügend wohlhabende Leute. Die geben gerne, wenn sie sehen, wofür.“ Ihr altes Schwimmbad zu sanieren, hätte die Stadt kein Geld gehabt (18 Millionen Mark). Nun wird ein neues privates Bad gebaut, die Stadt nimmt Einfluß auf den Eintrittspreis und zahlt dem Betreiber die früher angefallenen Betriebskosten. Das Theater schließen? Das Drei-Sparten-Haus mit 255 Angestellten hat solche Sorgen nicht. „Von mir aus soll doch Magirus auf den Vorhang seine Werbung pappen“, und Gönner hat noch mehr Vorschläge. Am heutigen Montag will er vor mehreren tausend Ulmern den Schwur wiederholen und seine Pläne für das nächste „Schwörjahr“ (immer von Juli bis Juli) verraten. Bundespräsident Roman Herzog wird dann neben ihm stehen und mit dem Kopf nicken. So in etwa hat er das gemeint, als er vor zwei Wochen seine vielbeachtete Rede zum „Bürgersinn“ verbreitete.

Eigentlich würde Oberbürgermeister Ivo Gönner am liebsten das ganze Sozialversicherungssystem auf den Kopf stellen. Im Auftrag der Stadt untersucht eine Arbeitsgruppe an der Universität Ulm derzeit, ob es nicht effektiver und billiger wäre, jedem Einwohner am Monatsanfang tausend Mark in die Hand zu drücken anstatt Sozialhilfe, Wohngeld „und all diese antragsabhängigen Leistungen. Es ist nur eine Idee. Aber sie gefällt mir“, sagt Gönner.

Es gab schon mal einen in Ulm, der wollte fliegen. Sinnigerweise hängt der nachgebaute Flugapparat von Albrecht Ludwig Berblinger („Der Schneider von Ulm“) direkt vor dem Amtszimmer des Oberbürgermeisters. Berblinger ist seinerzeit abgestürzt.