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Hochdekoriertes Himmelfahrtskommando

Sieht so die überfällige Durchlüftung des französischen Theaters aus? Das 51. Theaterfestival in Avignon widmet sich vorrangig jungen Regisseuren, deutschen Autoren und experimentellen Alltäglichkeiten am Rande des Wahnsinns  ■ Von Jürgen Berger

Im letzten Sommer ging das 50jährige Jubiläum des Theaterfestivals in Avignon ziemlich nichtssagend über die Bühne. Nur der frankokanadische Regisseur Denis Marleau sorgte mit seinem 1982 in Montreal gegründeten ThéÛtre Ubu und der Adaption von Thomas Bernhards „Alte Meister“ für einen Höhepunkt des Programms. Zum Feiern schien so recht niemand Lust zu haben, was unter anderem mit Etatkürzungen zu tun hatte, die dieses Jahr nun zum erstenmal ihre volle Wirkung zeigen: Ein Drittel der Aufführungen, sechs Spielorte und 40 Techniker mußten gestrichen werden. Avignon wirkte zum Festivalauftakt wie ein sedierter Herzpatient. Eine Meldung vom letzten Freitag dürfte dabei noch für zusätzliche Probleme gesorgt haben: Die Pariser Zentralregierung verschärft ihren Sparkurs weiter, das Kulturministerium soll stärker betroffen sein als andere, und so wird auch das kommende Theaterfestival nicht ungeschoren davonkommen.

Trotzdem stehen bis Anfang August auf 16 Spielstätten noch immer 36 Inszenierungen auf dem Spielplan (im Off-Programm gibt es an die 450 Inszenierungen auf über 80 Spielstätten, gespielt wird von 10 Uhr morgens bis 2 Uhr nachts). Länderschwerpunkt ist Rußland: Während in den Vorjahren aus Indien und Japan eine große Theaterbandbreite eingeladen wurde, gibt es diesmal Moskau kompakt. Unter anderem mit vier Produktionen des Theaters Piotr Fomenko.

Das russische Theater braucht solche Einladungen, um überleben zu können. Auf Avignons Messegelände lieferte Bartabas (bürgerlicher Name Clemens Marty) mit seinem ThéÛtre Zingaro allerdings ein Beispiel dafür, daß man, hat man erst einmal Kultstatus erreicht, Däumchen drehen und trotzdem gut leben kann. Er offerierte im obligaten Zirkusrund sein obligates Pferdespektakel und bot, was er schon immer bietet: hohe Reitschule durchmischt mit wilder Reiterakrobatik und weihevoll-romantischen Bildern eines friedlichen Zusammenlebens von Pferd und Mensch. Tatsächlich auffallend lediglich die Koreanerin Sung-Sook Chung, die herzzerreißend guttural singt.

Das französische Theater hat dagegen mit einem Generationswechsel zu kämpfen. Die Stars des Regiefachs wie Ariane Mnouchkine und Patrice Chéreau, alle schon etwas älter als das Festival, lächeln theatermüde aus der Ferne, während man bei einer Reihe von jüngeren Regisseuren nicht so recht weiß, ob sie halten können, was die Vorschußlorbeeren versprechen. Marleau gehört zweifelsohne zu ihnen, Festivalchef Bernard Faivre d'Acier lud ihn nach seinem letztjährigen Erfolg postwendend zur ersten Großinzenierung in den Papstpalast ein.

Faivre d'Acier setzt konsequent auf junge Regisseure und sorgt für Durchlüftung im französischen Theater. Im Falle von Marleau stehen auch andere Erfahrungen dagegen: Eine Einladung in den Papstpalast ist für französische Theatermenschen zwar die höchste Weihe, kommt aber auch einem Himmelfahrtskommando gleich. Tanzabende etwa können sich gegen die erdrückende Kulisse des Ehrenhofes im Papstpalast in der Regel durchsetzen; Sprechtheaterregisseure allerdings neigen häufig dazu, in die Knie zu gehen und in ihrer Not das traditionelle französische Deklamationstheater auf die Spitze zu treiben.

Marleau, der den frankophonen Raum in den letzten Jahren schon mehrfach mit teutonischem Theatermaterial versorgte („Lulu“, „Woyzeck“ und Abende nach Kurt Schwitters), wählte für seinen Ehrenhof-Einstand Lessings „Nathan der Weise“, in Frankreich bisher so gut wie nicht inszeniert. In der Hauptrolle stand ihm mit Sami Frey einer der profiliertesten französischen Schauspieler zur Verfügung, der den alten Nathan von jeglichem Pathos befreit und beweist, daß man auch auf einer der größten Freilichtbühnen der Welt intim spielen kann.

Wenn Nathan der Aufklärer versucht, die Religionen von ihrer Kompatibiltät zu überzeugen, konterkariert Frey diese Bemühungen immer wieder, indem er das ganze Lessingsche Räsongebäude mit kleinen Gesten zum Einsturz bringt. Tabori ließ seinen Nathan Anfang der 90er Jahre die zentrale Ringparabel so sprechen, als habe er sie schon tausendmal erzählt, und wiederholte sie vor Saladin und einem bereits ermüdeten Publikum. Frey zerlegt die Parabel, als glaube Nathan wider alles bessere Wissen an die Möglichkeit eines aufgeklärten Menschengeschlechts und zucke während des Erzählens aber vor der eigenen Courage zurück.

Das war leider schon alles. Um Frey herum blättert die Inszenierung ab, das filigran geschachtelte Bühnenbild im weiten Papstpalast mit seinen Andeutungen von Gotteshäusern und verschiedenen ornamentalen Räumen für die drei großen Religionen hat einen großen Nachteil: Jeder auch noch so nebensächliche Auftritt wird zur Staatsaktion, und Marleaus Schauspielern geht auf ihrem Weg zu einem der vorderen Spielplateaus häufig die Puste aus.

Auch dieses Jahr gilt, daß französische Theatermacher sich in weitaus größerem Maße mit deutschen Autoren beschäftigen als umgekehrt. Josef Nadj etwa, Leiter des Centre Chorégraphique Nationale d'Orléans, inszenierte Büchners „Woyzeck“, seine Bewegungskaskadeure agierten auf gerade sieben mal vier Metern in der Chapelle des Pénitents Blancs, einen Steinwurf vom Papstpalast entfernt.

Nadj versucht sich immer entschiedener in Richtung eines erzählerischen Bewegungstheaters und hat eine ganz eigene Bildsprache entwickelt, mit der er die Räume zwischen Sprechtheater und Tanz auslotet. Auch dieses Mal läßt er eine fatale Situationskomik abschnurren, „tanzt“ den Woyzeck selbst und macht einen wundersam Gehetzten aus ihm, der mit großen Augen den Kettenreaktionen zusieht, die durch einzelne Aktionen hervorgerufen werden. Ein stilles und gerade mal einstündiges Stück, in dem kein Büchner-Satz gesprochen wird. Als habe Nadj sich eine schöpferische Pause gegönnt, nachdem er letztes Jahr mit zwei Produktionen vertreten war und durch ganz Europa tourte. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Wurde er letztes Jahr noch zum „Prinzen des Festivals“ ausgerufen, zeigten sich Le Monde und Libération dieses Mal enttäuscht; das Publikum dagegen strömte derart zahlreich, daß man kurzfristig zwei Vorstellungen täglich anbieten mußte.

Einhellig positiv dagegen nahm man Michel Raskines Inszenierung von Lothar Trolles „Die 81 Minuten des Fräulein A“ auf, ein Stück, das für den Steirischen Herbst in Graz geschrieben wurde. Sieben Kassiererinnen eines Supermarkts stoßen während kurzer Pausen im Umkleide- und Vesperraum aufeinander oder verlieren sich allein in ihren Träumen vom großen Leben. Eine spielt den Lear, zwei inszenieren einen Ehestreit, und das Publikum wirft einen Blick in die Abgründe des alltäglichen Wahnsinns. Raskine, der das ThéÛtre du Point du Jour in Lyon leitet, bringt das alles schnörkellos und typensicher auf die Bühne und führt mit Trolle einen deutschen Autor ein, der in Frankreich als Freund, wenn nicht gar Erbe Heiner Müllers avisiert wird. Das ist eigentlich schon eine Erfolgsgarantie, denn Müller wird in Frankreich geradezu kultisch verehrt. Konnte Raskine auf der Teststrecke des französischen Theaters bestehen, durfte Stanislas Nordey erfahren, daß Karrieren in der südfranzösischen Provinzstadt zwar vehement beginnen können, irgendwann aber die Mühen der Ebene beginnen. Vor zehn Jahren inszenierte er für eine der unzähligen Off-Bühnen Marivaux' „Der Streit“, wurde entdeckt und ist heute Kodirektor der Pariser Renommierbühne ThéÛtre Nanterre- Amandiers. Ab nächstem Jahr wird er mit 31 Leiter des Theaters in St. Denis und jüngster französischer Intendant – um so enttäuschender, daß er sein „Streit“-Remake zielsicher in den Sand setzte.

Marivaux' Text wird Nordey zwar noch gerecht, und er setzt die Versuchsanordnung mit vier paradiesisch unbefleckten Erdenkindern und deren allmähliches Stolpern in promiske Wirren als klar strukturierte Raum-und-Licht- Choreographie in Szene. Um das Original von Marivaux arrangierte er jedoch einen zeitgenössischen Text Didier-Georges Gabilys, der vor einem Jahr an Aids starb und Marivaux' Frage nach der Unbeständigkeit der Liebe ins Aidszeitalter weiterdenken wollte. Ein larmoyanter Text, den Nordey pathetisch und wie ein Testament auf die Bühne gießt. Man darf gespannt sein, was Nordey Anfang September in Kassel machen wird. Immerhin ist er einer der Regisseure, den Tom Stromberg zur documenta X eingeladen hat.

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