„Es hieß oft: die böse Gret“

Margarete Steiff wäre heute 150 Jahre alt geworden. Im Rollstuhl sitzend, wurde sie zu einer Unternehmerin von Weltrang  ■ Von Marion Meier und Carmen Zahn

Polternd und rumpelnd saust der Rollstuhl die Gasse herunter. Vom Pfarrhaus bergab, quer durch das Städtchen Giengen auf der Schwäbischen Alb. Im Rollstuhl sitzt eine junge Frau mit gelähmten Beinen. Der Steuermann des „Höllengefährts“ ist der kleine Sohn des Pastors. Eigentlich sollte er Margarete Steiff nach Hause schieben. Aber davon wollen die beiden nichts wissen. Sie lachen und genießen den Fahrtwind. Margarete Steiff liebt solche rasanten Touren. Doch dieses Mal nimmt die Fahrt ein jähes Ende. Das Fuhrwerk stürzt. Dabei fällt Margarete aus dem Rollstuhl und bricht sich ein Bein. Leute eilen herbei, um zu helfen – und zu schimpfen: „So hat es kommen müssen. Du läßt dir ja nichts sagen!“ Es ist das Jahr 1870 und Apollonia Margarete Steiff, kurz: die „Gret“, ist 23 Jahre alt.

Später erinnert sich die waghalsige Rollstuhlfahrerin in ihrem Tagebuch: „Es war halt so schön, auch einmal schnell vorwärts zu kommen.“ Und Vorwärtskommen bleibt ihre Spezialdisziplin. Margarete Steiff schafft etwas, das ihr so leicht niemand nachmacht. Sie wird eine Unternehmerin von Weltrang. Ihre Stofftiere erobern den Globus.

Die Bauwerkmeisterstochter wird am 24. Juli 1847 geboren. Ihre Lebensgeschichte nimmt schon früh eine traurige Wendung. Mit eineinhalb Jahren wird sie schwer krank: Kinderlähmung lautet die Diagnose. Obwohl ihre Mutter, Maria Steiff, nichts unversucht läßt, sie von Arzt zu Arzt und von Kur zu Kur schleppt, wird Margarete nie wieder ganz gesund. Beide Beine und ihr rechter Arm bleiben zeitlebens beeinträchtigt. Nicht so ihr Freiheitsdrang. Schon als Kind friert sie lieber, als in der Stube unter der Aufsicht der Eltern oder Großeltern häkeln zu müssen. „Alle Hausgenossen bettelte ich an: Tragt mich auf die Gasse“, steht in Margarete Steiffs Tagebuch zu lesen. Denn draußen lockt das Leben. Ihre Behinderung ist für die „Gret“ noch lange kein Grund, klein beizugeben, und um ihre Integration kümmert sie sich selbst. Von ihrem Leiterwagen aus mischt sie kräftig mit, erzählt den anderen Kindern Geschichten und, so die spätere Unternehmerin: „Ich ordnete Spiele an, wo ich der Mittelpunkt war.“

Die Fähigkeit, ihre Mitmenschen von sich und ihren Ideen zu begeistern, ist es aber nicht allein, mit der es Margarete Steiff schließlich zu Weltruhm bringt. Die findige Schwäbin besitzt eine gehörige Portion Mut und Eigensinn. „Ich war nie so brav und folgsam gewesen wie meine Schwestern, es hieß oft die böse Gret“, bekennt sie. Der strengen Mutter, für die es „nur arbeiten und wieder arbeiten“ gibt, trotzt sie so manche Freiheit ab. Gewitzt tauscht sie das verhaßte Häkeln gegen Kinderhüten. Wenn die Mutter zu erschöpft ist, um mit ihr noch eine Runde zu drehen, läßt sie sich von Freundinnen für eine „Mondscheinpromenade“ aus der stickigen Stube entführen. Mit der Rolle der körperbehinderten alten Jungfer, die tatenlos zusieht, wie andere das Leben genießen, findet sie sich nicht ab.

Zu Lebzeiten Margarete Steiffs ist es eigentlich undenkbar, daß sich eine Frau auf den Weg macht, ihr eigenes Unternehmen zu gründen. Erziehung und Bildung bürgerlicher Frauen sind einzig und allein darauf ausgerichtet, am heimischen Herd die Familie zu versorgen. Um Mädchen auf ihre Rolle als „schöne Seele“, als Teil der Innenarchitektur des heimeligen Binnenraumes für den Ehemann vorzubereiten, stehen vor allem Religion und Handarbeiten auf dem Lehrplan. Sie sind die wichtigsten Disziplinierungsinstrumente ungezügelter Weiblichkeit.

„Gemäß der Anschauung, daß der Zweck der weiblichen Erziehung nicht die Entwicklung der Intelligenz, sondern die des Gemüts sei, wurde uns Wissenswertes nur in den minimalsten Dosen verabreicht“, erinnert sich die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm 1912. Auch sie wird als junge Frau zum Handarbeiten angehalten: „Noch sehe ich den häßlichen Teppich vor mir, an dem ich Tag für Tag, Stunde für Stunde arbeiten mußte. Ich sehe die großen knalligen Blumen, die nach einem Muster abgestickt wurden ... Und während ich Stich für Stich zählte, sah ich immer nach der Uhr, horchte auf die Korridorglocke, ob nicht plötzlich jemand eintreten würde, mich fortzuholen...“, schreibt sie. Margarete Steiff mag sich beim Häkeln Ähnliches gewünscht haben. Doch nicht einmal die klassische „Errettungsphantasie“ vom Prinzen, der Dornröschen befreit und auf sein Schloß bringt, gibt es für sie. Als Körperbehinderte ist sie keine Heiratskandidatin. Ihre Mutter befürchtet, daß Margarete als „nutzlose“ Esserin am Tisch irgendwelcher Verwandten versauern muß.

Die jugendliche Margarete Steiff hat andere Sorgen. Der „Terminkalender“ der nicht mal 13jährigen ist mehr als voll: „Zu der Zeit war ich von winters von 8 Uhr früh bis abends 5 Uhr in den Schulen.“ Aber das macht ihr gar nichts aus. Wißbegierig lernt sie. In der Schule und im Konfirmandenunterricht fühlt sie sich wie alle anderen Kinder: Zumindest beim Lernen sind auch ihre Mitschüler und Mitschülerinnen zum Stillsitzen gezwungen. Und das Wichtigste für Margarete Steiff: „Dann mußte ich doch nicht häkeln.“

Zäh und entschlossen arbeitet sie an ihrer Unabhängigkeit, der einzigen Chance für ein würdevolles Leben. Sie lernt Zitherspielen, bis sie so gut ist, daß sie Unterricht geben kann – und Nähen, den Schmerzen in ihrem Arm zum Trotz. Zusammen mit ihren Schwestern Pauline und Marie näht Margarete Steiff Festtagskleider für Nachbarinnen und Bekannte – oft bis spät in die Nacht hinein. Von dem erwirtschafteten Geld kaufen sich die drei eine Nähmaschine. Die erste in Giengen.

Von der Nähmaschine zur eigenen Fabrik

Margaretes Eltern unterstützen ihre „Gret“ so gut sie können. Zu ihrem 27. Geburtstag überraschen sie sie mit einem besonderen Geschenk: einer eigenen kleinen Wohnung mit Arbeitszimmer. Dort richtet sich die junge Schneiderin eine Werkstatt ein, in der sie Kinderkleidung und Unterwäsche fertigt. Wenige Jahre später nimmt sie Filzunterröcke in ihr Sortiment auf. Denn Margarete Steiff hat verwandtschaftliche Beziehungen zur Giengener Filzfabrik. So ergibt es sich, daß die mittlerweile 30jährige im Jahr 1877 ein Filzkonfektionsgeschäft eröffnet.

Auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk entdeckt die junge Unternehmerin zwei Jahre später in der Zeitschrift „Modewelt“ ein Schnittmuster für einen Elefanten aus Stoff, den sie nach eigenen Vorstellungen schneidert. Das Filz-„Elefäntle“, der Urahn der Kuscheltiere, entsteht. Die Kinder lieben den weichen Gesellen, und die Frauen schätzen ihn als exotisches Nadelkissen. Die Nachfrage nach Filz-Elefanten steigt rapide an. Affen, Kamele, Esel, Papageien und Bären folgen. Margarete Steiffs originelle Tierkollektion findet Anklang – bald auch außerhalb der Familie. So wird aus dem Filzkonfektionsgeschäft allmählich eine Filz-Spielwarenfabrik.

Die Mutter aller Teddybären

Nicht nur in Giengen an der Brenz, auch in Hamburg, London, Florenz und Amsterdam finden die Steiff-Tiere reißenden Absatz. Mittlerweile sind auch Margarete Steiffs Neffen in das rasch expandierende Spielwarenunternehmen eingestiegen. Einer von ihnen, Richard Steiff, hat eine zündende Idee: Stoffbären mit beweglichen Armen und Beinen. 1903 stellen die Steiffs ihre Neuheit auf der Leipziger Messe aus. Ein Amerikaner ist begeistert und bestellt gleich 3.000 Stück. Und dann ist der Bär los: Das Stofftier aus dem Hause Steiff erhält den Namen „Teddybär“, nach Theodore („Teddy“) Roosevelt, und wird zum Verkaufshit. Egal, welche Farbe er hat oder welche Kleidung er trägt, der Teddy avanciert zum Symbol der Kindheit schlechthin.

Um den Aufträgen nachkommen zu können, beschließen die Steiffs, die Spielwarenfabrik zu vergrößern. Margarete Steiff besteht auf einem behindertengerechten Zugang. Das Bauamt lehnt zunächst ab. Doch die „Gret“ setzt sich durch. Im Oktober 1899 schreibt sie der Giengener Behörde, daß sie auf den Bau einer Rampe bestehen müsse: „Diese dient nämlich zum Transport meiner fußlahmen Person und ermöglicht mir die Übersicht über mein Geschäft per Rollstuhl.“

Bis zu ihrem Tod am 9. Mai 1909 bleibt Margarete Steiff eine unternehmungs- und lebenslustige Frau. Sie reist viel und genießt das Leben. Ihr Faible für Geschwindigkeit bleibt ihr erhalten. Spritztouren im Seitenwagen eines Motorrades sind ihr noch mit 56 Jahren ein wahres Vergnügen: „Das geht fein!“ Nach wie vor hält sie es nicht lange in der „Stube“ aus. Wenige Wochen vor ihrem Tod schreibt sie: „Mir geht es gottlob gut, ich bin alle Tage im Geschäft, denn daheim ist mir's viel zu langweilig...“

Literatur: Wolfgang Heger: „Das Tor zur Kindheit. Die Welt der Margarete Steiff“. Hrsg. Arbeitskreis für Stadtgeschichte, Giengen a. d. Brenz 1997