Aus 70 mach 300 Kilometer Straßenbahn

■ Karlsruhe ist das Mekka der Nahverkehrsplaner: Größeres Netz lockt mehr Fahrgäste

Von nah und fern pilgern Politiker und Nahverkehrsexperten nach Karlsruhe. Denn im Badischen ist eine Revolution im öffentlichen Nahverkehr zu besichtigen.. Das Geheimnis: Die Straßenbahn fährt direkt von der Fußgängerzone in der Innenstadt auf normalen Fernbahngleisen bis weit aufs Land hinaus. Auch Orte in 40 Kilometern Entfernung sind ohne Umsteigen mit der Straßenbahn zu erreichen. Im Gegenzug sind Busse aus dem Gebiet um die zentrale Geschäftsmeile Kaiserstraße verbannt.

Noch in den siebziger Jahren umfaßte des Straßenbahnnetz der 270.000-Einwohner-Stadt knapp 70 Kilometer, etwa soviel wie im doppelt so großen Bremen heute. Innerhalb von 20 Jahren ist das Netz auf 300 Kilometer gewachsen. Neugebaut wurden etwa 60 Kilometer Strecke. Kern des Konzeptes ist jedoch die Nutzung bereits vorhandener Gleise für die Straßenbahn. So rollen heute die Züge der städtischen Verkehrsbetriebe über eigens gebaute Verbindungsschienen auf die Strecken der ebenfalls städtischen Albtal Verkehrsgesellschaft, einer traditionsreichen Regionalbahn. Außerdem nutzen sie etwa 100 Gleiskilometer der Deutschen Bahn AG, wo sich durchaus eine Straßenbahn und ein ICE auf dem Gegengleis begegnen können. Auf den Bahnstrecken in der Region wurden eigens Straßenbahn-Stationen gebaut, um die Abstände zwischen den bestehenden Regionalbahnhöfen zu verringern. Die Wagen sind so konstruiert, daß sie sich an die jeweiligen technischen Systeme anpassen können. Konkurrenz zwischen den Betreibern gibt es inzwischen nicht mehr: Auch die Bahn AG fährt inzwischen mit identischen Wagen auf städtischen Straßenbahnstrecken.

Die Fahrgastzahlen der Karlsruher Verkehrsbetriebe sind seit dem Aufbruch ins Umland von 70 auf 120 Millionen pro Jahr gestiegen. (Zum Vergleich: Die Bremer Straßenbahn AG beförderte 1996 95 Millionen Menschen). Bei einzelnen Verbindungen erreichte die Straßenbahn Zuwachsraten von 500 Prozent gegenüber den bisherigen Regionalzügen der Deutschen Bahn. Früher fuhren 2.000 Menschen pro Tag mit dem stündlichen Zug die 30 Kilometer von Karlsruhe nach Bretten. Mit der Straßenbahn sind es 12.000. Nach Befragungen der Verkehrsbetriebe sind 40 Prozent von ihnen vom Auto umgestiegen. Wobei die Badenser Wellenbewegungen beobachten. Sobald das ÖPNV-Angebot besser wurde, mehr Leute ihr Auto stehen ließen und der Stau sich auflöste, wagten sich wieder mehr Menschen mit dem Auto in die Stadt. Dennoch ist man in Karlsruhe sicher: Ohne den Ausbau des Nahverkehrs wäre die Stadt schon längst kollabiert.

Das Konzept, Straßenbahnen im Regionalverkehr einzusetzen, wird etwa zwischen Köln und Bonn schon lange praktiziert. Auch Chemnitz, Aachen, Saarbrücken oder Düsseldorf sind dabei, ihre Straßenbahnen aufs Land hinaus fahren lassen. jof