Die Sprache der Dinge

Über das polnische Buch des Jahres: Stefan Chwins „Tod in Danzig“/ Zur Tausendjahrfeier von Bremens Partnerstadt gelesen  ■ von Franz Dwertmann

„Ach diese Wehmütigkeit Niedersachsens, die auch der schönste Sommertag nicht zu vertreiben vermag. Immer muß alles die Farbe wuchernden Efeus haben, in dem die Gärten Bremens ertrinken, alles muß schimmern wie die Sehnsucht des Taus auf den frischen Blättern der Bäume in Worpswede, alles muß in den Schatten schmerzlicher Gefühle eintauchen, die – wenn auch im Verborgenen – die norddeutschen Herzen quälen...“Wie kommt es dazu, daß wir solchermaßen charakterisiert werden in „Tod in Danzig“– einem Roman, der 1996 in Polen zum „Buch des Jahres“erkoren wurde und soeben auch in deutscher Übersetzung erschienen ist? Der Autor, der gebürtige Danziger Stefan Chwin, scheint eine Vorliebe für die deutsche Partnerstadt zu haben; gleich mehrmals siedelt er Personen und Nebenschauplätze in Bremen an, obwohl Handlung und Aussage der Erzählung das nicht erzwingen.

In Bremen spürt der Erzähler Gewährsleute auf, die ihm helfen, die Geschichte von Hannemann zu rekonstruieren. Als Hauptfigur gab er dem Roman im polnischen Original auch seinen Namen. Hannemann flüchtete nicht wie Zigtausende andere am Ende des Krieges nach Westen. Hannemann blieb – mehr oder weniger zufällig – im bürgerlichen Stadtteil Oliva seiner Heimatstadt Danzig, wo sechs Jahre zuvor der Zweite Weltkrieg begonnen hatte. So erlebte er dort den Übergang von einer überwiegend deutschen zu einer polnischen Stadt.

Lessingstraße 17 – Ulica Grottgera 17

Der Ich-Erzähler Piotr wächst mit Hannemann in einer polnisch-deutschen Hausgemeinschaft auf. Seine Eltern hatten – wie fast alle neuen Bewohner von Gdansk – ihre Heimat in den von Rußland besetzten Ostgebieten Polens („kresy“) aufgeben müssen, hatten den Aufstand und die Zerstörung von Warschau hinter sich und fanden in jenem Danziger Stadtteil Oliva, den der weitgereiste Alexander von Humboldt angeblich als „einen der drei schönsten Flecken der Erde“bezeichnet haben soll, die von den Deutschen verlassenen Häuser und Villen vor. Im Mutterleib erlebt er die erste symbolträchtige Begegnung mit Hannemann, die ihm seine Mutter später immer wieder schildern muß; der schmächtige Vater vertreibt zwei grobschlächtige polnische Männer aus dem Haus, die Hannemann drangsalieren. Deren Einwände „Siehst Du nicht, daß das ein Deutscher ist? ... Sie haben unsere Häuser in Brand gesteckt und geplündert“, rechtfertigen das Verhalten seiner Landsleute nicht. So „bekam die Welt ihren Glanz zurück“, und die Familie des Erzählers fand „in diesem Augenblick hier in der Lessingstraße 17 ein Zuhause“.

„Die Dinge“einer untergegangenen Welt

Im polnischen Haushalt leben nun all die unversehrt zurückgelassenen Dinge weiter. „Mama glitt mit den Fingern über die Oberfläche der Bordüre, die mit Distelblättern und kornblumenartigen Blüten geschmückt war.“Die eigentlichen Helden des von Renate Schmidgall hervorragend übersetzten Romans sind die alltäglichen Dinge. Der Autor beschreibt sowohl die kostbaren wie auch die alltäglichen Einrichtungen und Gegenstände eines bürgerlichen deutschen Hauses so detailliert und poetisch, ja, liebevoll und die Inbesitznahme so verständnisvoll, daß man sie in dieser polnischen Familie gut aufgehoben fühlt. Chwin spart aber auch das andere nicht aus: Wie Deutsche vor der Flucht noch ihre Wohnungen mit allen wertvollen Einrichtungen kurz und klein schlagen, wie manche Häuser unter den neuen polnischen Bewohnern schnell herunterkommen. Eines der 30 Kapitel des Buches, die jeweils höchstens zehn Seiten umfassen und dem Leser nicht chronologisch, sondern episodenhaft die Spannung von Untergang, Verlust und dem Neuen, der Veränderung vermitteln, heißt bezeichnenderweise „Die Dinge“.

Der geheimnisvolle Deutsche

Hannemann bleibt für den heranwachsenden Jungen immer ein geheimnisvoller Mitbewohner. Wir erfahren nicht einmal seinen Vornamen. Auch die späteren Recherchen bei dem 1937 noch rechtzeitig nach Stockholm geflüchteten Zentrumsmitglied Franz Zimmermann oder dem Galeristen Heinrich Mertenbach in Worpswede bringen keine endgültige Klarheit.

Warum war dieser angesehene Professor der Anatomie eines Tages nicht mehr in die Universitäts-Klinik gegangen? War es die eigenartige Geschichte um den Verlust seiner Geliebten gewesen, die ihm die bisherige Arbeit sinnlos erscheinen ließ? Oder war es ein politisch motivierter Rauswurf in dieser gegenüber dem aufkommenden Nationalsozialismus schon allzu willfährigen Stadt, die ihren einmaligen Status als „Freie Stadt“schon fast aufgegeben hatte?

Seitdem war Hannemann zu einem „Scheinleben“erstarrt, „zu diesem halben Tod, der die Seele erfaßt hatte und sie für die Stimme der Welt taub machte“. Seine Selbstisolierung gibt er auch nach jenem Zusammenbruch der Stadt nicht auf.

Kleist – Liebe – Schmerz – Tod

So wie der Autor darauf verzichtet, uns die geschichtlichen Fakten, die politischen Zusammenhänge oder die militärische Lage jener dramatischen Zeit aufzuzeigen, so verweigert sich auch sein Held Hannemann den „großen Dingen“. All die prätentiösen Kleinigkeiten bekommen für ihn einen neuen Sinn, keinen nostalgischen, sondern einen „naiven Mut, die Welt nicht zur Kenntnis zu nehmen, die unbegreifliche Kraft, die dunklen Seiten nicht so ernst zu nehmen“. Der Medizinprofessor gibt nun Nachhilfestunden in Deutsch und verbringt lange Stunden mit der Betrachtung der Dämmerung, der Thujen oder seiner Bücher. „Er spürte eine Leere in sich, aber es war keine Leere, die Angst machte, sondern eine wohltuende Leere, wie wir sie spüren, wenn uns nichts von den Dingen trennt.“

Muß dieser Hannemann seinem jungen polnischen Mitbewohner noch mysteriös bleiben, so kommt er dessen Person später doch näher, als er bei Andrzej Ch., einem Dozenten für ostmitteleuropäische Kultur an der Universität Bremen, recherchiert. Als Sechzehnjähriger hatte der bei Hannemann Deutschstunden genommen, die gelegentlich unterbrochen wurden von der Betrachtung alter, in gotischer Schrift verfaßter Bücher.

Hannemann hatte einen vollkommen veränderten Eindruck gemacht, als sie auf einen Band mit den Briefen Kleists an Henriette Vogel stießen und Hannemann ihm später mit der Schilderung des gemeinsamen Selbstmords den „süßen Traum vom Tod“vermittelte.

Wiederbelebung

Chwin setzt die Geschichte Kleists in Beziehung zum Schicksal des polnischen Malers und Schriftstellers Witkiewicz, läßt den Leser über deutsch-polnische Parallelen nachdenken und über die Todes-Melancholie von Hannemann. Nach diesem raisonnierenden, fast literaturwissenschaftlichen Einschub gewinnt die Geschichte – auch die Geschichte Hannemanns – mit dem Auftauchen von zwei neuen Personen in der Ulica Grottgera 17 eine neue Dimension: Durch Hanka, eine junge fröhliche Frau aus Galizien, und durch Adam, einen taubstummen, obdachlosen Jungen, den Hanka eines Tages mitgebracht hat. Nur Hannemann kann sich mit ihm in der Gebärdensprache unterhalten. Als die Behörden, die auch Hannemann als Deutschen unter Druck setzen, den Jungen wegnehmen wollen, verschwinden Hanka, Adam und Hannemann aus Gdansk und brechen in eine ungewisse Zukunft auf.

Zwanzig von tausend Jahren

Das Buch erscheint rechtzeitig zur Tausendjahr-Feier, die die Stadt Gdansk/Danzig seit April mit vielen Festivals und Veranstaltungen aller Art begeht. Dieses Erinnerungspanorama umfaßt nur eine kurze Phase der bewegten Geschichte der Stadt: Die zwanzig Jahre von der Endphase der sogenannten Freien Stadt, die ein einzigartiges Konstrukt unter der Aufsicht des Völkerbundes darstellte, über die Nazi-Herrschaft bis hin zur vollständigen Polonisierung der Stadt, Anfang der Fünfziger Jahre. Die vierzig Jahre danach bis heute sind nicht weniger dramatisch verlaufen. Die Insignien dieser „realsozialistischen“Phase sind heute völlig aus dem Stadtbild verschwunden, ebenso wie deutsche Schriftzüge aus der Zeit davor. Dem einen oder anderen der vielen Tausend Touristen werden allenfalls an irgendeiner Mauer eines abgelegenen Stadtbezirks die verblichenen Reklame-Buchstaben für „Kolonialwaren“auffallen. In Chwins Buch ist aber vieles davon bis ins Detail aufbewahrt. Und trotz dieser – auch autobiographischen – Nähe des Autors zu den fast wehmütig geschilderten „Dingen“, hält er doch gleichzeitig eine Distanz, als ob er diese Zeit auch einbetten möchte in das ganze geschichtliche deutsch-polnische Geflecht, das in dieser Stadt verwoben ist.

Chwin und Grass

Bemerkenswertist nicht so sehr, daß 50 Jahre danach der Untergang der Stadt, Flucht und auch Vertreibung thematisiert werden, sondern daß es ein polnischer Autor tut – und wie er es tut. Für den polnischen Leser erscheinen die Deutschen jener Zeit in einem neuen Licht. Die polnische Kritik hob zu Recht hervor, wie ungewöhnlich es ist, diese schreckliche Zeit nicht mit der üblichen Schwere und Betroffenheit zu gestalten. „Die Dinge taten das, was sie immer tun. Sie betrachteten die Welt von den Regalen aus... Sie waren auf keiner Seite.“Was uns als die eine Wirklichkeit erscheint, erweist sich als eine von vielen.

Stefan Chwin wurde 1949 geboren, hat bereits1991 in „Die kurze Geschichte eines Scherzes“über die deutsche Vergangenheit von Gdansk geschrieben und setzt wie der einige Jahre jüngere Pawel Huelle („Weiser Dawidek“, Fischer TB 1995) in gewisser Weise die literarische Tradition des bekanntesten deutschen Autors der Gegenwart fort: Günter Grass, in dessen „Danziger Trilogie“(„Blechtrommel“, „Katz und Maus“, „Hundejahre“) wir die präzise topographische Erinnerung an das kleinbürgerlich-miefig-nationalsozialistische Klima der Stadt finden.

So wie Grass diese Welt aus der Perspektive des kleinen Oskar ironisch darstellt, so lassen uns Huelle und Chwin mit dem Blick heranwachsender Jungen auf das polnische Gdansk der Nachkriegszeit schauen. Und auch ihre Helden agieren wie Oskar Matzerath hauptsächlich in den Vororten Langfuhr (heute Wrzeszcz) und Oliva. Die historische Altstadt, also das traditionelle und touristische Danzig/Gdansk, wird nur vom Rande aus betrachtet. Wie bei Grass ist den beiden polnischen Autoren der Ort die Folie für schmerzhafte Einsichten in das, was den Menschen alles verlorengehen oder weggenommen werden kann. Und wie sie überleben – oder auch nicht. Viele sich dabei entwickelnde Fragen läßt er offen.

Empfehlung: Literarische Spaziergänge

Wer die Feiern des Milleniums nutzen möchte, zum Beispiel anläßlich der Bremen-Tage in der ersten August-Woche, diese faszinierende Stadt zu besuchen, dem sei empfohlen, nicht nur die so beeindruckend wiederaufgebaute Rechtstadt und den zu dieser Zeit die ganze Altstadt beherrschenden Dominikaner-Markt zu besuchen: Im Anhang des Buches von Stefan Chwin findet sich ein deutsch-polnisches Glossar, mit dem sich all die Straßen und Plätze des damaligen Oliva im heutigen polnischen Oliwa wiederfinden lassen.

Dann mag man sich auf die Suche nach den Thujen in den Vorgärten der Lessingstraße machen und prüfen, ob sie auch noch in der Ulica Grottgera erhalten sind. Der Seesteg und das Kurhaus von Glettkau, wo Hannemanns Leben sich so grundlegend veränderte, sind im heutigen Jelitkowo nicht mehr zu finden.

Wer in ähnlicher Weise die Spuren von Günter Grass und seinen Helden in Gdansk verfolgen möchte, dem sei der literarische Reiseführer „Oskar-Tulla-Mahlke...“empfohlen, der mit Bremer Beteiligung entstand und in allen Danziger Buchhandlungen ausliegt.

Stefan Chwin, Tod in Danzig. Berlin 1997. 286 Seiten. 36 Mark; Stefan Chwin hält am 7. Oktober eine Lesung in Bremen