Turbo-Entzug mit kleinen Fehlern

In Tiefschlaf versetzt sollen Heroinsüchtige über Nacht clean werden – behaupten Ärzte über das neue Verfahren. Münchner Ärzte sehen keinen Vorteil gegenüber bisherigen Methoden  ■ Von Peter Lerch

Der Mann hat etwas von einem Weltraumfahrer: In allen Körperöffnungen stecken ihm Schläuche. Die Arme sind mit Hämatomen bedeckt. Über eine Magensonde bekommt er Medikamente. Sogar die Lunge haben sie ihm angebohrt. Endotracheal intubiert damit man ihn maschinell beatmen kann. Der Dreiunddreißigjährige hatte keinen Unfall. Er wird auch nicht operiert. Er liegt beinahe freiwillig in Narkose, weil er vom Heroin entziehen will.

Auf der Station 9 des Jüdischen Krankenhauses weist nichts auf diese besondere medizinische Dienstleistung der Abteilung Anästhesie und Schmerzbehandlung hin. Ein ganz gewöhnliches Krankenhaus, in dem betagte Damen aufeinandergestützt durch die Korridore schlurfen und mühsam die Aushänge an der Wand entziffern.

Doch im Wirkungsbereich von Frau Doktor Partecke, der Chefanästhesistin der Klinik, werden seit Anfang des Jahres Patienten in den pharmakologischen Tiefschlaf versetzt, damit sie den Turbo-Entzug absolvieren können. Eine mentale Tortur, die darin besteht, daß Junkies unter Narkose mit dem Opiatantagonisten Nemexin abgefüllt werden. Dadurch wird ein komprimiertes Entzugssyndrom ausgelöst, das bei vollem Bewußtsein nicht auszuhalten wäre. Beim Erwachen, so die Zielsetzung, soll der Heroinabhängige dann seine Sucht überwunden haben.

„Eine effiziente Heilmethode! Viel billiger als Methadon“, schwärmt die Chefanästhesistin Partecke. Der Antagonist-induzierte Narkose-gestützte Schnellentzug (AINOS), auch UROD (Ultra-Rapid Opiat Detoxification) genannt, galt nach spektakulären Berichten in den Medien als vielversprechende Alternative zum herkömmlichen Entgiftungsprozeß.

Bereits nach vierundzwanzig Stunden, so die optimistischen Prognosen, sollten Süchtige von ihrer Sucht kuriert sein. Die Hoffnung auf eine ebenso rasche wie unkomplizierte Lösung des Drogenproblems machte weder vor Fachkreisen noch vor Betroffenen halt. Im Fernsehen erklärte eine Süchtige: „Ich fühle mich, als ob ich einen Tag hart gearbeitet hätte. Aber gut!“

Ärzte und Laien kolportierten die Geschichte, daß es möglich ist, die Nadel im Tiefschlaf zu vergessen und verbreiteten die Illusion, daß der Turbo-Entzug die pharmakologische Antwort auf die Sucht sei. Andere Ärzte witterten Bombengeschäfte und verschafften sich das in Deutschland noch nicht zugelassene Nemexin auf dem Schwarzmarkt, um gegen ein gutes Honorar private Entziehungskuren zu veranstalten.

Doch rasch stellte sich heraus, daß der Entzug unter Narkose geradezu ein medizinischer Schildbürgerstreich ist: Statt einer Woche dauert der Entgiftungsprozeß nunmehr sieben Tage, weil der Entzugswillige zunächst auf den Opiatersatzstoff Methadon „umgestellt“ werden muß. Der Haken an dieser Methode ist, daß das synthetische Opiat selbst bei kurzem Gebrauch eine deutlich größere Suchtpotenz hat und die Entgiftung wesentlich schwieriger und langwieriger ist.

Um dauerhaft clean zu bleiben, müssen die Patienten außerdem den Opiatantagonisten auch nach der stationären Entgiftung schlucken. Dazu müssen sie alle zwei Tage zu einem Facharzt, wo sie ihre Nemexin-Ration unter Aufsicht einnehmen. Das Medikament, das bei einem akut Süchtigen sofort schwere Entzugssymptome auslösen würde, wirkt dann für 48 Stunden wie eine Schutzimpfung gegen den Rückfall.

Dennoch ist Frau Doktor Partecke vom Turbo-Entzug überzeugt: „Ich helfe Drogenabhängigen auf diese Weise, die schwersten Phasen des Entzugs zu verschlafen.“ Daß die Patienten nach dem Turbo-Entzug dennoch unter erheblichen Entzugsbeschwerden leiden, mag Frau Doktor nicht gelten lassen.

„Subjektives Unwohlsein“, tut sie Beschwerden ihrer Patienten ab, von denen ihr einer sogar schon mal einen Dankesbrief geschrieben habe. Allein der Umstand, daß die Patienten mit dem Turbo-Entzug zufrieden waren, rechtfertige den Einsatz der Narkose.

Ein Münchner Fachärzteteam vom Klinikum Rechts der Isar kam nach ausführlichen Versuchen mit der Narkosetherapie zu einem ganz anderen Urteil: „Der Opiatentzug in Narkose ist ein experimentelles, mit Risiken behaftetes Verfahren zur Entgiftung. Vorteile gegenüber dem konventionellen ,kalten‘ Entzug wurden keine beobachtet.“

Die Münchner mußten ihre Studie außerdem wegen unerwarteter Komplikationen nach dem zwölften Patienten abbrechen. In zwei Fällen kam es zu Niereninsuffizienz. Bei einem Patienten versagte die Lunge, und der Mann mußte 35 Tage beatmet werden.

Der Turbo-Entzug als eine Art Love Parade der Suchtforschung degradiert Rauschgiftsüchtige endgültig zum Versuchskaninchen ehrgeiziger Mediziner und zur Zielgruppe geschäftstüchtiger Klinikleitungen. Immerhin kostet eine derartige Narkosebehandlung bis zu 12.000 Mark. Eine Gruppe Psychiater der Baseler Universitätsklinik kritisiert in einer Studie, daß weder die möglichen Nebenwirkungen von hochdosierten Opiatantagonisten noch die psychischen Auswirkungen von derartigen Medikamenten ausreichend erforscht sind.

Dabei ist das Verfahren gar nicht neu: Bereits in den siebziger Jahren beschäftigten sich Ärzte mit der Technik des Schnellentzuges von Opiaten. Neu ist lediglich die Geschäftsidee: Denn der spanische Psychiater Juan José Legarda kommerzialisierte das Verfahren, indem er sich die UROD-Methode kurzerhand patentieren ließ. Seitdem verhökert seine israelische Firma namens Cita weltweit Genehmigungen an Kliniken.

Einziger deutscher Franchise- Nehmer des Originalverfahrens ist die Charité. Weil Behandlungsmethoden in Deutschland nicht schützbar sind, kopieren das Jüdische Krankenhaus und seit einiger Zeit auch die Urbanklinik die Cita- Methode.

Mit mäßigem Erfolg: Wie auch Frau Doktor Partecke einräumt, sind mindestens fünf von bislang siebzehn Patienten wieder rückfällig geworden.