Überleben is' was für Leute mit 'nem bißchen Niveau

 ■ Von Gabriele Goettle

Wie verabredet fahren wir auf dem Weg in die Suppenküche beim Hochhaus der Mutter vorbei, um sie mitzunehmen. An der Klingelanlage findet sich nach längerer Suche zwischen den vielen Namensschildchen endlich ihres. Ich läute, warte eine Weile, läute noch mal, und als ich gerade gehen will, ertönt eine krächzende Stimme aus der Gegensprechanlage: „Wat is'n?“ Ich sage, daß wir es sind, frage, ob sie mitfahren will oder nicht, woraufhin verwirrendes Schweigen folgt. Dann aber sagt sie: „Ick bin noch nich' fertig, aber kommt man ruff, dritte Etage! Und, eh ... warte, bringt mir bitte 'ne Packung Lord unten aus'n Laden mit, ick hab' seit jestern nischt zum Roochen ... ihr müßt es mir aber vorlegen, Jeld habe ick ooch nich'!“

Ich hole Elisabeth, die im Auto wartet, und wir begeben uns ins Zigarettengeschäft, das auch Zeitungen, Getränke, Schreibwaren Brötchen und Rosinenschnecken führt. Nebenan gibt's eine Kneipe, zwei, drei andere kleine Geschäfte, und sogar eine Bibliothek ist da. Nach dem Läuten meldet sich summend der automatische Öffner an der schweren Glastür. Drinnen ist es kühl, der Steinfußboden glänzt, es riecht nach Putzmitteln. Wir haben die Wahl zwischen zwei verchromten Aufzügen und nehmen den erstbesten.

Die Mutter erwartet uns vor ihrer Wohnungstür, ganz am Ende eines langen, spiegelblanken Flures. Im Gegenlicht wirkt sie wie ein sehr junges, zierliches und überschlankes Mädchen. Sie trägt einen feuerroten Pullover, dazu eine fleischfarbene, leicht durchsichtige Strumpfhose, drunter einen Tanga. Aus Verlegenheit macht sie ein paar kokette Bewegungen, hält die Hand vor den Mund beim Lächeln und sagt: „Nu kommt schon rin, aber kriegt keinen Schrecken...“ Wir treten durch einen kleinen dunklen Flur direkt ins Wohnzimmer. Unter unseren Schuhen knirscht zersprungenes Glas. Der Fußboden ist bedeckt mit Kippen, zerknüllten Zeitungen, Scherben und Wäsche. Berge von Kleidungsstücken türmen sich auf, bedecken eine Couch, zwei Sessel sowie fast den ganzen Couchtisch. Die Türen eines schmalen Schrankes stehen offen, so als hätte jemand das alles herausgerissen, was aber schlechterdings unmöglich ist, weil derart viel gar nicht hineingegangen wäre. Ansonsten ist der Raum so gut wie leer, auf den großen Scheiben von Balkonfenster und Balkontür liegt ein gelblicher Nikotinfilm, in einem gußeisernen Blumengestell welkt eine Blattpflanze in ihrer Hydrokultur dahin, unter ihr wellt sich das Linoleum von früheren Gießanfällen.

Die Mutter steht ohne Schuhe in den Scherben, deutet wage auf alles und sagt: „Zu wat soll ick denn hier uffräumen und saubermachen? Für wen denn, wenn sie mir meinen Sohn nich' wiedergeben? Ick sage mir det so, ick lasse allet, wie't is', bis sie mir den Kleenen wieder rausrücken!“ Zwei Fernsehgeräte stehn am Boden, mit dem Bildschirm zur Wand gekehrt. „Is' allet kaputt, det Jelumpe. Ick brauch' so wat nich', ooch keen Radio. Ick mach' mir meine Unterhaltung alleene. Det is mir schon früher uff'n Wecker jefallen, wo ick im Radiofachhandel jearbeitet habe, den janzen Tach det Jedudel, nee danke. Nu isset schön ruhig hier“, erklärt sie mit dem Nuscheln der Zahnlosen. Wir geben ihr die Zigaretten, sie zündet sich eine an und führt uns in die Küche, die eine Durchreiche zum Wohnzimmer hat. Im verstopften Spülbecken steht fast bis zur Kante ein Gemisch aus halbflüssigem Kaffeesatz. Die Kochplatten des Herdes und der Herd selbst tragen hingegen kaum Gebrauchsspuren. Auch hier in der Küche sind die Schranktüren und Schubladen geöffnet. Weder Geschirr noch Besteck scheint vorhanden zu sein, bis auf ein Teeglas, das neben einer Packung Filtertüten steht. Die Mutter deutet lachend auf eine ganze Batterie originalverschlossener Spül- und Putzmittel.

Die Mutter macht sich einen Kaffee. Dazu füllt sie einen Filterbeutel dreiviertel voll, steckt ihn ins Teeglas und läßt aus dem Wasserhahn langsam warmes Wasser auf den Kaffee fließen, bis er sich vollgesaugt hat. „Ick kann euch nich' mal wat anbieten, ick habe keen Jeschirr und nischt, nich' mal Töppe! Aber von Töppen hätte ick ooch nischt, wenn ick nich' für meinen Sohn kochen kann. Hier in 'ner leeren Küche kann ick mir nischt kochen, drum muß ick ja zur Kirche, sonst kriegen mich doch keene zehn Pferde in 'ne Kirche!“ Sie nimmt den Filter und preßt über dem Glas eine hellbraune Flüssigkeit heraus, sagt „prost!“ und trinkt einen Schluck. „Wollt ihr den Rest ooch noch sehn? fragt sie und geht voran, durch den Flur, an dessen Ende das Badezimmer liegt.

Alles ist frisch geweißt, wie überall in der Wohnung, die Badewanne wirkt staubig und unbenutzt. Es gibt weder Handtuch noch Klopapier, nur einen Seifenspender von „Azurra Paglieri“ und ein feuerrotes, kurzes Frottebademäntelchen, das an der Tür hängt. „Ick liebe Rot, und dann kommt gleich Schwarz, det sind meine absoluten Lieblingsfarben“, sagt sie und streicht über den Ärmel ihres Pullovers. Ins verdunkelte Schlafzimmer sollen wir auch einen Blick werfen. Es scheint bis auf ein schmales Bett unmöbliert, oder aber, falls es Möbelstücke gibt, so sind sie unter den Kleiderbergen verschwunden, mit denen das Zimmer nestartig ausgepolstert ist.

Die Mutter deutet auf die Einbauschränke im Flur, die leer sind, und nimmt einen stoffbezogenen Kleiderbügel heraus: „Wejen so wat muß ick mir herumstreiten, mit der Zicke vom Amt! Stoffbügel sind überflüssiger Luxus und Angeberei, meint die, nee, wieso denn, sage ick, det is Kultur in meinen Augen! Irgendwo muß ick ja anfangen. Überleben is' was für Leute mit 'nem bißchen Niveau!“

Wir gehn zurück ins Wohnzimmer, wo sie einen Teil der Kleiderhaufen von den Sesseln stößt, so daß in etwa Sitzhöhe entsteht. Sie selbst nimmt Platz in einem Zwischenraum auf der Couch, ihr Körper scheint den Weg von ganz allein zu finden, so, wie er sich an allem vorbeischlängelnd, mit angezogenen Beinen hineinschmiegt. Hinter ihrem Kopf ist an der frisch tapezierten Wand ein dunkler Fleck. Die Mutter raucht, lehnt den Kopf dagegen und sagt mit geschlossenen Augen: „Ick brauche Ruhe, viel Ruhe, zum Nachdenken.“ Dann streift sie die Asche ab über der freigeräumten kleinen Fläche auf der marmornen Tischplatte und beginnt zu erzählen: „Nu sitz' ick hier, jut, ick bin noch jung, aber, ihr seht's ja, ick habe keene Zähne mehr. Det war nich' immer so, aber jut, ejal. Ick hatte ja bereits den Vorsatz, ick wollte uffhörn zu roochen, ick wollte mir Zähne holen, ick wollte mein Leben in Ordnung bringen. Aber wat is'?“ Sie lacht hell auf. „Ick sitze ohne Zähne in mein' Chaos rum und rooche! Tatsache is', ick könnte es mir jar nich' schön machen, so ohne meinen Kleenen.“ Und nach einer Weile:

„Kieck ma', meine Kollegin hier, die wohnt da drüben mit ihren Kindern, die läßt keenen rin, wenn's klingelt, die kiekt durchs Loch und macht nich' uff. Da liecht immer die Kette vor. Vom Amt kommt da keener rin, bei der! Die hat ihre Kinder feste im Griff, die ham nischt mit'm Heim zu tun und mit niemand. Alle ham ihre Kinder im Griff, nur ick sitze wieder mal da wie 'ne Doofe mit meinen janzen Klamotten und ohne Sachen. Wie kommt dette? Ick hatte doch allet. Jetzt liegen meine Sachen irgendwo uff'm Müll. Meine juten Töppe, inner Mülltonne, meine Auslejeware, inner Mülltonne, mein Sohn, inner Mülltonne; wat anderet is' so 'n Heim ja nich'! Ick sachte zu den Blöden vom Amt: Wenn's hier bei mir allet nur nach Ihrem Willen jeht, denn is' det falsch, det is' schließlich mein Leben! Aber die kapiern ja nich'. Ick habe jahrelang jebraucht, bis ick det Kind endlich gekriegt habe, weil bei mir normalerweise ja allet nach innen jeht, und nun kriegte ick endlich det Kind, da nehmen die's mir weg. 'nen kleenen Fünfjährigen von der Mutter trennen! Det sind allet Verbrecher und Perverse! Die Nutte vom Amt, die fragt mich: ,Hatten Sie sexuelle Beziehungen zu Ihrem Sohn?‘, det is doch krank, so wat! Die is' doch bekloppt im Koppe, oder wie seht ihr det?“ Die Mutter drückt erregt ihre Kippe auf der Tischplatte aus, als wär's die Amtsperson, und tippt sich mit dem Finger an die Stirn.

„Klar ham wir jekuschelt, ick hab' den Kleenen abjeküßt, so süß, wie der war. Is' det nu 'ne sexuelle Beziehung? Ick habe det Kind ja schließlich gemacht, ick weeß jenau, wat 'ne sexuelle Beziehung is!“ Die Mutter steht auf, sucht in einer Schublade herum und reicht uns ein vielbenutztes Farbfoto. Zu sehen ist ein hellblonder, etwa vier- oder fünfjähriger Junge im Schlafanzug. Er sitzt auf dem Boden mit einem Spielzeug und lächelt mild wie ein Engel. „Det isser, mein Kleener“, sagt die Mutter mit einem ausgesprochen bekümmerten Gesichtsausdruck, „nu isser im Heim in Steglitz, und ick kann ihn nich' mal sehen!“ Wir wenden ein, daß sie als Mutter doch wohl ein Besuchsrecht habe. Darauf ruft sie aus: „Ja wat habe ick denn davon? Nischt! Ick mag keene Heimkinder. Ick war selber im Heim, ick weiß Bescheid. Einmal im Heim, immer im Heim! Und nur noch klaun und freche Schnauze, mehr lernen se nich' im Heim.“ Die Mutter trinkt erbost ihren Kaffee aus, steht entschlossen auf und trägt ihr Glas in die Küche.

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Fortsetzung

Als sie zurückkommt, wirkt sie ein wenig verweint, und wir drängen zum Aufbruch. Sie beginnt sofort das eine oder andere Kleidungsstück aus den Bergen herauszuziehen, hält es sich vor den Körper, um es mißbilligend fortzulegen, nicht ohne es zuvor ordentlich gefaltet zu haben. Dann entscheidet sie sich für ein schwarzweiß gemustertes Hemdblusenkleid, zieht einen breiten elastischen schwarzen Gürtel aus einem Nebenhaufen und fischt unter der Couch die passenden Schuhe hervor. Schwungvoll fliegt der rote Pullover auf den Pulloverberg, schon hat sie alles übergestreift und schließt die Schmetterlingsschnalle des Gürtels. „Den Gürtel“, erklärt sie, „den besitze ick schon lange. Nich' allet, wat hier liegt, is' von der Kirche. Ick habe auch wat eigenet!“ Es findet sich dann auch noch eine dunkle Strumpfhose und das genau passende Seidentüchlein für den Hals. Sie sieht elegant aus und wie eine Dame, die sich verirrt hat, in unsere chaotische Wohnung, blickt nun auch tatsächlich etwas überrascht auf die Kleiderhaufen und sagt auf hochdeutsch: „All diese Sachen könnte ich ja mal der Kirche geben als Kleiderspende.“ Lachend dreht sie sich langsam ein wenig im Kreis: „Ick bin nich' eitel, ick bin Naturmensch! Bei mir isses so, ick muß mich wohl fühlen, ick gehe nich' nach Kälte oder Hitze draußen, ick richte mich nach meiner Körpertemperatur, und ick gehe nich' nach der Mode, sondern nach meinem eigenen Jeschmack, ob's den anderen jefällt oder nich'! Da war mal so 'ne Zicke, die sagte zu mein' Schlitz im Rock: ,Na, bei Ihnen, da kann man ja sonstwohin kieken!‘, und ick darauf zu ihr: „Icke, an Ihrer Stelle, würde bis sonstwohin gar nich' kieken!‘ Also, wenn man sonstwohin kieken kann, da kiek ich gar nich' hin, da kiek ick weg. So isses doch?“ Dann gräbt sie unter dem Zeug auf dem Tisch eine Haarbürste hervor und beginnt sich ihre halblangen dunklen Haare zu kämmen, die, bis auf eine verfilzte Stelle am Hinterkopf, tadellos aussehen. Routiniert bürstet sie Haarsträhnen über die Stelle, so daß man es kaum noch sieht für den Moment. „Wenn die mir meinen Sohn geben, denn würde sich mit einem mal allet ändern bei mir, ick hätte ja die Verantwortung für den Kleenen zu tragen, und so wat nehme ick ernst!“ Meine Frage nach dem Alter des Jungen löst überraschenden Unmut aus: „Wat interessiert mich det! Siebzehn isser und im Heim, ob der nu klauen geht oder Lehre macht, wat weeß ick! Gleich können wir fahren, ick hole nur noch meine Uhr.“

Nach einer Weile kommt die Mutter wieder, ohne Uhr, dafür aber mit Brille. Sie sucht auf und unter dem Tisch ohne Erfolg und läßt sich dann erschöpft und bleich auf die Couch fallen. „Ick hab' schon wieder Magenschmerzen. Es liegt an mein' Privatleben, ham sie jesagt. Wenn ick 'nen Mann hätte, wäre det 'ne richtje Familie und wat anderet. Wat soll denn det heißen? Ick war noch nie mit 'nem Mann verheiratet, ick würde ooch nie mit 'nem Mann zusammenziehen, nie! Ick kenne det allet von meine Mutter, der Nutte, die hat den Pennern allet hinterherjetragen, jesoffen ham sie wie die Löcher, det allet, obwohl se schwanger war. Und wat hat die Nutte bekommen? Wat viel zu Kleenet, mich! Mit der Muttermilch hat sie die uff mich übertragen, die janzen Schäden, und deshalb rühr' ick kein' Alkohol an, det ekelt mich, weil ick immer denken muß an die olle Nutte und ihre Penner. Ick muß mich nich' amüsieren wie meine Mutter. Die mußte sich ja unbedingt amüsieren, in ihrer Jugend, und ick amüsierte mich derweil im Heim. Die olle Nutte. Die wollte mich ja loswerden. Ick wollte aber mein Kind haben, det is' der große Unterschied! Ick wollte mit mein' Sohn janz alleene leben, für den habe ich jekocht, jeputzt und uffjeräumt, nich' für 'nen Mann!“ Die Mutter schleudert ihre Brille auf den Tisch und sagt: „Det drückt, det Scheißding!“ An Aufbruch ist momentan nicht zu denken, sie fährt fort:

„Wißt ihr, bei mir isset immer schiefjeloofen. Mit Dreißig bin ick alleene jezogen, und als dann endlich det Kind kam, da war ick richtig glücklich, ach herrlich war det! Ick hatte allet im Griff. Ick hatte allet in Rot und Schwarz, nich' so ne ollen Blumentapeten. Ick hatte 'nen Hochschrank, fünf Türen mit Spiegel! Allet von mein' eigenet Jeld, allet voll mit Pullovern, Blusen, Röcken. Ick hatte 'nen Pudel, der is dreizehn Jahre geworden. Nie was passiert, und die Katze hat erst jesponnen, nachdem sie der Penner verprügelt hat... In der Küche war allet. Ach, wenn ick an all die schönen Sachen denke, die ick hatte, sogar 'ne Kühltruhe stand da, schön einkoofen mit dem Kleenen, allet einfrieren. Det war immer so niedlich, wenn wir beede jekocht ham, ick hatte ja 'nen Kochkurs jemacht bei der Bewag. Ick hatte ihn uff'm Arm und habe jerührt, da is' nie wat passiert, die janzen Jahre. Erst als die ollen Pfleger vom Amt uffjetaucht sind, gab's Probleme. Dabei bin ick ja deshalb hierherjezogen, daß er sich nich' die Finger verbrennen tut an der Ofenheizung. Ick wußte det nich', daß diese Wohnung nich' kindjerecht is. Der Kleene hat sich gleich die Finger verbrannt in der Küche, an der Herdplatte, die muß er irgendwie anjemacht haben. Da isser im Krankenhaus jelandet mit seinen Brandwunden. Und det Kind war noch nich' mal abjestillt! Ick konnte det nich' verhindern. Von da an hab' ick uffjepaßt wie so'n Schießhund, deshalb hab' ick ooch meine Arbeit uffjejeben, um mich janz um den Kleenen zu kümmern. Ick hatte ja keenen Mann, der det Jeld für uns ranschleppt, det war mein Fehler, und deswejen ham sie mir auch allet kaputtjemacht, die Verbrecher da oben.

Mein Sohn is' weg, meine Sachen sind weg, meine Jesundheit, meine Zähne, allet! Nu sitze ick uuf 'ner Ruine und muß noch Angst haben, det sie mir die ooch noch rauben, ick soll nämlich nicht wohnfähig sein, ick soll ins Altersheim, icke! Die Penner vom Amt, die nehmen dir dein Kind weg, die machen dir det Leben zur Hölle und verjessen allet. Dann kommen sie und sagen: ,Wat, wie leben Sie denn, Ihr Kind is' im Heim, und Ihr janzet Leben is' die Hölle, Sie kriegen das doch nie in den Griff, wir wer'n Sie mal unterbringen. Ick sag's doch, einmal im Heim, immer im Heim! Mir rücken se mein Leben lang uff die Bude. Hier ham sie ooch Schlüssel und kommen rin, wenn ick nich' da bin, spionieren rum. Det is' doch 'ne Frechheit, so wat, die denken, weil se mir die 530 Mark Miete zahlen, daß det ihrs is', wat, det is aber meine Intimsphäre. Ach, mein Magen tut mir weh, ick habe ja seit jestern mittag nischt jegessen, wat'n ooch! Fahrn wa in die Kirche, aber schnell!“

Der Aufbruch erfolgt auf der Stelle. Unterwegs bei der Fahrt durch den Arbeiterbezirk Neukölln ruft die Mutter plötzlich aus: „Kiek ma, schnell, da, rechts, da habe ick als Kind jelebt. Neben uns hat der Schauspieler Kieling jewohnt, bei den war ick oft, früher, det war ein janz, janz lieber Mensch. Nu isser ooch schon tot, Krebs! Früher wollte ick immer mit Leute zusammen von Jeist und Kultur, nich' mit den ollen Pennern, mit denen ick nu immer rumhocke!“

In der Kirche ist schon reger Betrieb. Am vorderen Tisch sitzt das Ehepaar, das die Mutter hilfsbereiterweise eingeladen hatte zu Bad, Entfilzung und Nähmaschine, in der Annahme, es herrsche ein dringender Mangel. Die junge Frau mit den Ringen unter den Augen sagt mit halb gespielter Empörung: „Na, du bist mir eine! Wo warst du denn? Wir haben am Donnerstag 'ne halbe Stunde auf dich gewartet, bis zwölfe war'n wir auf dem U-Bahnhof, nix, kein Mensch!“ Der Mann brummt etwas Unverständliches. Die Mutter sagt, teils verlegen, teils belästigt: „Ick konnte nich', ick war krank, lag mit mein Magen in Bette!“ Damit scheint das Thema erledigt. Der Pfarrer verkündet, daß heute, am letzten Tag vor der Sommerpause, die Kleiderkammer draußen vor der Tür alles auf Tischen bereithält, daß es für jeden dort ein hartes Ei und ein paar nagelneue Socken zusätzlich gibt. Daraufhin verschwinden alle nach draußen, bis auf einen sehr Dicken. Herein taumelt der sturzbetrunkene Peter. Er kann kaum stehen und wird gestützt vom „Briten“, einem gutaussehenden Engländer, dem die Thatcher-Regierung jede Heimatliebe geraubt hat, wie er sagt, und der seitdem in Berlin versucht, zu existieren und sich um aidskranke Freunde zu kümmern. Das ungleiche Paar nimmt abseits Platz, und der Engländer besorgt aus der Küche etwas Kaffee für den Trunkenen.

Das Ehepaar kommt mit einem prallgefüllten Sack von der Kleiderverteilung zurück, und auch die Mutter hat eine große Strandtasche gefüllt. Sie ißt das harte Ei gegen ihre Magenschmerzen und betrachtet skeptisch die Socken. „Det is' nix für meinen Sohn, wenn da kein Mickymausbild drauf is'. Bitte schön, wer möchte...“ Die junge Frau nimmt sie sofort und reicht dafür ihr Ei. Dann zieht sie ein Strickzeug hervor. Auf einer Rundstricknadel entsteht etwas Feuerrotes, Bretthartes: ein Kleid, zu Hause hat sie noch sechs Kilo Garn, sagt die junge Frau, die wollen verstrickt sein.

Alle Punks sind heute besonders unruhig und zahlreich erschienen. Die „Rollheimer“, die in ihrer Bauwagenburg am Bethaniendamm lebten und zu den Ärmsten innerhalb der Wagenburgbewegung zählen, sind von der Polizei geräumt worden. Den Obdachlosen wurden vom Senat Betten im Asyl angeboten, ihr Hab und Gut landete auf dem Müll. Widerstand konnte mangels Unterstützung nicht geleistet werden. Politischer Frühjahrsputz in Berlin-Kreuzberg.

Der Pfarrer, in frischer Rüschenschürze, rollt den Servierwagen vorbei. Es gibt gebratene Hühnerkeule mit Kartoffelsalat, dazu die üblichen Wurst- und Käsebrotberge, danach Grießpudding mit Soße. Die Mutter seufzt. Vis-à-vis sitzen zwei stattliche ältere Frauen mit kräftigen Unterarmen. Zu ihren Füßen ihr Bernhardinerrüde Goliath. Der Hund hat am Gelenk des Vorderbeins einen riesigen kahlen Grützbeutel. Ein Herr mit Hütchen, der direkt neben dem Bein sitzt, sagt mit angewidertem Gesicht: „Der Abszeß ist ja ekelerregend und sicher auch ansteckend. Und das beim Essen!“ Die Besitzerin wirft ihm einen vernichtenden Blick zu und sagt: „Reg dich ab, Opa, das is' ganz harmlos!“

Nach dem Essen wird ein Klavier hereingerollt, und ein junger Mann, ein eigens bestellter Pianist, nimmt Platz und spielt routiniert ein bißchen Jazz, ein bißchen Tanzmusik, er improvisiert derart gekonnt, daß es klingt wie Radiomusik, wie eine Geräuschkulisse, der niemand recht zuhört.

Der Antiquar erscheint mit einem Stuhl und setzt sich an meine Seite. Nah an meinem Ohr, der Musik wegen, sagt er: „Ach ja, ich hab's gelesen, ich möchte nur eine kleine Anmerkung machen, eine Korrektur eigentlich. Sie haben geschrieben, daß ich in der Wohnung von Magnus Hirschfeld war als Kind, das stimmt nicht, das haben Sie wohl verwechselt, es war die Wohnung von Eduard Fuchs, dem „Sittenfuchs“, in der ich war als Kind, als sehr kleines Kind, Wir wohnten ja auch in Zehlendorf, Hammerstraße 39 bin ich geboren, 1930, und Hammerstraße 40 war das Haus von Eduard Fuchs. Da hat meine Mutter nämlich immer saubergemacht bei ihm, und mich hatte sie mitgenommen. So kam das alles. 1933 ist er ja schon ins Exil gegangen und 1940 gestorben, in Frankreich. Rechtzeitig, bevor die deutsche Wehrmacht kam! Ich habe ja später dann alles gelesen, als junger Mann. Das wissen Sie ja, Fuchs war ja nicht nur Kulturhistoriker, Kunstsammler, Sexologe und Aufklärer, er war auch Marxist der Zweiten Internationale, da hat ja kaum jemand, auch später nicht, sich mit der Psychoanalyse abgeben wollen, aber Fuchs, der ja! Vielleicht isser deshalb dann auch abgerückt, als die KPD stalinistisch wurde, kann sein. Kennen Sie den Aufsatz von Walter Benjamin über Eduard Fuchs? Der ist interessant, kam glaub' ich 1937 in der Zeitschrift für Sozialforschung. Ich kann noch mal nachschaun, wenn Sie wollen ... Ach, die ham Sie wohl, die Bände, Reprint, dtv, ja, na sehn Se!

Vom Klavier her erklingen nun vollkommen andere Töne. Der Pianist hat es verlassen, und ein älterer, gepflegt aussehender Herr mit gebauschter Frisur hat Platz genommen. Er ähnelt dem Verleger Klaus Wagenbach und spielt hingebungsvoll ein bißchen Chopin, um dann mit viel Gefühl und geschulter Stimme ein Wiener Lied anzustimmen. Seine Klavierbegleitung hinkt mitunter ein wenig nach, aber das gibt der Darbietung einen überaus authentischen Charme. Elisabeth, die Österreicherin ist, rückt näher, und der Antiquar flüstert mir zu: „Das ist Helmuth, der kommt aus Wien. Ist Schauspieler, sagt er.“ Das Scheppern und Lärmen hat merklich nachgelassen, die Leute hören zu und spenden sogar Beifall. „Das war das Wiener Alkoholikerlied“, sagt der Wiener mit Burgtheaterstimme und löst allgemeines Gelächter aus, sogar bei Peter, der dank des Kaffees ein wenig nüchtern wurde.

Elisabeth sagt, sie sei sogenannte Landsmännin, aber schon seit 1980 weg von Wien, woraufhin er, sich ihr zuwendend, sagt: „Das ist doch gar nichts! Ich bin schon seit 58 weg, trotzdem bin ich ein Urwiener geblieben ... es ist komisch, aber ich kann in Wien nicht leben. Kein Wiener kann Wien leiden, das ist eine Wahrheit, aber wenn man das offen sagt in Wien, dann macht man sich nur Feinde. Es ist immer so ein ambivalentes Gefühl in mir, andererseits. Aber es hat keinen Sinn für mich zurückzukehren, ich hab' lange darüber nachgedacht, aber es geht nicht. Man muß es mögen, und ich mag's nicht, mein Österreich! Ich weiß ja nicht, wie's Ihnen geht?“ „Genauso“, sagt Elisabeth, und der Wiener greift in die Tasten und singt ein sehnsüchtig schmalziges Heurigenlied, das vom Publikum erfreut aufgenommen und mit Applaus belohnt wird. Der Wiener seufzt und ist sichtlich in sentimentaler Stimmung: „Ein gebildeter Mann hat mal gesagt, das einzige, was den Deutschen vom Österreicher unterscheidet, ist die gemeinsame Sprache.“ Der Antiquar ruft aus: „Karl Kraus hat das gesagt, der große Sprachkritiker Karl Kraus!“ Der Wiener bestätigt und fährt fort: „Ich bin, wie gesagt, 58 von Österreich weggegangen, in die DDR. Ich war ja Mitglied der KPÖ und wollte den Sozialismus mit aufbauen, aber das ist eine lange Geschichte. Jedenfalls, das war deutschsprachiges Ausland und für mich anfangs sehr interessant, aber natürlich bin ich fürchterlich gescheitert, mit meinem Vorhaben... die Verhältnisse, sie war'n nicht so!“

Er lacht in Koloraturen und wendet sich den Tasten zu, um „Für Elise“ zu spielen. Seine farblos lackierten Fingernägel schimmern. In der Mitte des Raumes dreht sich ein älterer Prolet mit schütterer Wasserfrisur einsam im Kreis, er balanciert seine Tasse auf dem Kopf und formt mit geschlossenen Augen die weiblichen Formen einer imaginären Tanzpartnerin in die Luft. Der Wiener schließt mit einem variierenden Schnörkel und sagt amüsiert: „Nichts ist so kitschig, daß es nicht zugleich auch ein bißchen schön wäre. Aber es liegt immer auch an der Atmosphäre. Es muß passen. Wissen Sie, das fehlt mir hier immer ein bißchen in Deutschland, immer noch, dieses Mittelding zwischen Kunst und kommerzialisierter Unterhaltungskultur, dieses etwas Gemütliche im positiven Sinne, das sich ergibt, vollkommen unorganisiert, aus einer Situation heraus. Solche Momente wie dieser sind selten. Normalerweise haben die Leute ja gar keine Zeit für Überraschendes, die haben gar nicht die Nerven, irgendwohin zu gehen, wo sie nicht genau wissen, da findet das und das dann und dann statt. Deswegen unter anderem bin ich ja auch hier, da ergibt sich so was noch am ehesten ... Ich bin seit mehr als zehn Jahren unterwegs in den Suppenküchen und Wärmestuben, ich kenn' das allerbestens ... ich zahl' meinen Kaffee ja immer, damit gar nicht erst Vorwürfe laut werden.“ Dann spielt und singt er wieder, diesmal etwas aus einer Operette, und die Mutter singt stellenweise mit, ein Tätowierter pfeift dazu, und der Bernhardiner mit dem Grützbeutel legt sich vollends hin und versperrt allen den Durchgang.

Nur ein nietenbespickter Punk, mit Hundeleine um den Hals, steigt ungerührt über den Koloß und stellt krachend eine Blechdose auf den Nebentisch. Er sammle Geld zum Versaufen, erklärt er kaltschnäuzig und fügt, wohl wegen der erstaunten Gesichter, hinzu: „Ich komm' einfach nich' drüber weg, daß sie mir meinen Hund geklaut haben, der war nur kurz am Kotti im Gebüsch zum Kacken und is nich' wieder rausgekommen. Weg, einfach weg!“ Er spricht so laut, daß ihm inzwischen alle zuhören. Der Tätowierte sagt: „So wat gibt's doch nich'!“, und die Bernhardinerherrinnen raten: „Tierheim Lankwitz, vielleicht isser da abgegeb'n worden.“ Dem Punk rollen die Tränen aus den Augen: „Na, da war ich doch, jeden Tag! Nichts! Hunde über Hunde, hinterm Gitter, in gekachelten Zellen, und überall, wo du reinschaust, da sitzt einer und will mit, aber meiner war nie bei, und nun sammle ich Geld, dat ich ... meinen Kummer ersäufen kann. So sieht's aus.“ Einige suchen in ihren Taschen herum und geben etwas, andere ignorieren die Büchse. Nur die Mutter sagt halblaut: „Wenn man für so'n Wesen die Verantwortung nich' übernehmen kann, dann sollte man sich 'nen Hund gar nicht erst anschaffen. Hätt' er besser uffjepaßt...!“, und der Punk stößt wütend hervor: „Geklaut haben sie mir den, geklaut!“ Die Mutter lächelt mokant und wendet sich ab.