Geld oder Leben

■ Flutkatastrophe war im Denken nicht vorgesehen

Es mag irrational erscheinen, daß viele BewohnerInnen im brandenburgischen Überschwemmungsgebiet ihre Häuser nicht verlassen wollten, als noch Zeit war, dies halbwegs geordnet zu tun. Trotz Warnungen wollten sie nicht wahrhaben, daß ihre Dörfer wirklich überflutet werden könnten. Als dann die Dämme gebrochen waren, blieb vielen nur soviel Zeit wie Menschen, die von einem Feuer oder einem Erdbeben überrascht werden. Gerade genug, um Papiere und ein paar Kleider einzupacken. Zurück blieben Möbel, Bücher, Hausrat und natürlich die Häuser. Alles nur Dinge, und Dinge sind – anders als Leben – ersetzbar. Und dennoch hört man von Menschen, denen mit der materiellen Existenz der Lebenssinn genommen ist.

Im Vergleich zu ungleich schwereren Katastrophen in den Monsungebieten erscheint das lächerlich. Doch man sollte Unvergleichbares nicht zwanghaft in eine Beziehung setzen. Zum ersten konnten sich die Menschen, die entlang der Oder leben, seit Jahrzehnten darauf verlassen, daß der Fluß sich brav in seinem Bett bewegen würde. Seit 1947 das Oderbruch von der letzten schweren Überschwemmung heimgesucht wurde, hatte es keine vergleichbaren Wasserstände gegeben, gleichzeitig war viel in die Deichsicherung investiert worden. Zum zweiten haben Menschen im reichen Norden ein anderes Verhältnis zu Besitz als im armen Süden. Das festzustellen heißt nicht, es gutzuheißen. Aber es erklärt das scheinbar irrationale Verhalten der Menschen in den überschwemmungsgefährdeten Dörfern. Da haben sich BewohnerInnen jahrelang krummgelegt, um ein Häuschen zu bauen, haben Kredite für Autos und Wohnungseinrichtungen aufgenommen – und sollen diesen mühselig erworbenen Besitz verlassen, obwohl noch gar kein Wasser im Keller steht.

Mancher ist auch im persönlichen Bereich erst dann bereit, sein Handeln zu ändern, wenn ihm das „Wasser bis zum Hals steht“. Viele Oder-Anrainer verhalten sich nicht anders. Wer will ihnen das zum Vorwurf machen? Wohnung oder Haus sind nicht allein materieller Besitz; sie stellen das eigene Nest dar, das Schutz bietet und Rückzugsmöglichkeit. Insofern haben die Menschen in der Oderregion viel mehr verloren als Haus und Möbel – auch wenn sie ihr Leben retten konnten. Gudrun Giese