Erfolg für Scientology vor Gericht in Frankreich

■ Nach einem Berufungsurteil in Lyon darf die Sekte sich „Religion“ nennen

Paris (taz) – Die Chefs der Sekte rufen „Sieg“ und freuen sich schon auf ihre „Anerkennung in Frankreich“. Ihre Opfer sowie die wenigen Politiker und Juristen, die sich um Aufklärung über Scientology bemühen, sind entsetzt. Der Anlaß für die Aufregung ist das Berufungsurteil im Lyoner Scientologen-Prozeß, das am Montag abend die Praktiken der Sekte von jedem Vorwurf reinwusch.

Der Urteilsspruch gipfelt in dem Satz: „Die Scientology-Kirche darf den Titel Religion für sich in Anspruch nehmen.“ Damit ist ein spektakulärer Entscheid der Lyoner Strafkammer aufgehoben, die im vergangenen November den Expräsidenten der örtlichen Scientology, Jean-Jacques Mazier, zu drei Jahren Haft und einer hohen Geldstrafe sowie 14 weitere Scientologen wegen Betrug und Aufhetzung zum Selbstmord zu mehrmonatigen Bewährungsstrafen verurteilt hatte. Statt einer kollektiven Verantwortung der Scientology vermochte das Berufungsgericht bloß persönliche Verfehlungen zu erkennen. Und die belegte es mit entschieden niedrigeren Strafen: Der Expräsident bekam eine Bewährungsstrafe, und sechs seiner Mitverurteilten wurden ganz freigesprochen.

Vor dem Berufungsgericht ließ ein Mann seiner Enttäuschung am Montag freien Lauf. „Betrüger, Mörder, ihr ruiniert eure Klienten und treibt sie in den Selbstmord, es gibt keine Justiz mehr“, schrie der Vater von Patrice Vic, der sich im März 1988 das Leben genommen hatte. Vic war zuvor in die Fänge der „Persönlichkeitstester“ der Sekte geraten, die ihm nach vier Sitzungen zu einer 30.000 Franc (9.000 DM) teuren „Reinigungskur“ geraten und ihn zu diesem Zweck zur Aufnahme eines Kredits gedrängt hatten. Die letzten Worte des technischen Zeichners, „es geht nicht anders“, nahm seine Witwe als Auftrag, um die Sekte wegen „Aufhetzung zum Selbstmord“ zu verklagen.

Acht Jahre lang passierte fast nichts. Erst der kollektive Selbstmord von Mitgliedern der Goldtempler 1995 im französischen Vercors-Massiv brachte Bewegung in das Verfahren. Frankreich begann sich für die zahlreichen Sekten zu interessieren.

Für das Lyoner Strafverfahren bot Scientology einen großen Teil ihrer Führungsspitze auf. Dennoch kam am Ende die Einschätzung dabei heraus, die die der Interministeriellen Sektenkommission in Paris bestätigte, daß Scientology eine „sektiererische Organisation“ ist, die dem „Zweck der Bereicherung“ diene und die „öffentliche Ordnung“ störe. Im Verlauf der Verhandlungen wurden erstmals in Frankreich die Praktiken der Scientologen, die Mitglieder in den persönlichen und finanziellen Ruin oder gar in den Tod trieben, bekannt.

Das Berufungsurteil ist ein Rückschlag für all jene, die weiterhin über die Sekte aufklären wollen. Als juristische Handhabe dagegen bleibt nur die Überprüfung der Arbeit des Gerichts. Jean- Pierre Brard, Mitglied der Interministeriellen Sektenkommission, die einen neuen Bericht an den Premierminister vorbereitet, glaubt hinter dem Urteilsspruch den langen Arm der Sekte zu erkennen, nachdem schon während des ersten Verfahrens in Lyon die Ermittler bespitzelt und geheime Akten entwendet worden waren. „Scientology verfügt heute über echte Macht in Wirtschaft, Politik und Verwaltung“, erklärte Brard. Dorothea Hahn