Schöne Königin der Riesinnen

Astrid Kumbernuss hat aus Kugelstoßen (bäh!) ein kleines, florierendes Geschäft gemacht. Damit das so bleibt, muß sie nun bei der WM gewinnen  ■ Von Frank Ketterer

Frau K. aus N. ist eine Ansammlung von Superlativen. Sie ist die Schönste, die Schlankste, die Blondeste, die Schnellste, die technisch Perfekteste. Frau K. aus N. stößt die Kugel so weit wie sonst niemand auf der Welt. Reihenweise knapp unter 21 Meter, auch dieses Jahr schon wieder einmal drüber. Bei der morgen beginnenden Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Athen sollte das reichen, um einmal mehr aufs oberste Treppchen hüpfen zu dürfen, eingerahmt von Damen, die sehr wahrscheinlich etwas weniger schön, schlank, blond, schnell und technisch perfekt sind.

Astrid Kumbernuss (27) aus Neubrandenburg ist ein Glücksfall für das Kugelstoßen. Und sie ist im Reich der Riesinnen etwas ziemlich Einmaliges, eine Art Königin. Der Beweis nämlich, daß es sehr wohl auch in dieser Sportart möglich ist, gut und gleichzeitig fraulich zu sein. „Ich bin nicht nur Kugelstoßerin“, sagt sie, „sondern auch Frau.“ Das ist wichtig, „dafür tue ich ein bißchen was, und darauf lege ich auch Wert.“

Daß kürzlich eines dieser Magazine bei ihr anfragte, ob sie sich für eine Fotoserie auch einmal „relativ ausziehen“ würde, hat Kumbernuss ein wenig stolz gemacht. Sie ist 1,86 Meter groß und wiegt nach Angaben ihres Verbandes 89 Kilo. „Ich brauche mich nicht zu verstecken“, sagt sie. Das mit den Relativ-nackt-Fotos wollte sie sich dann aber doch noch einmal ganz genau überlegen.

Astrid Kumbernuss weiß, daß Leistung alleine nicht genügt, um vom Kugelstoßen leben zu können. „Als Kugelstoßerin verdient man nur, wenn man die absolute Nummer eins ist“, sagt sie, „und wenn man dazu noch einigermaßen gut aussieht.“

Sie verdient sehr gut. Bei weitem nicht so viel natürlich wie irgendein Kicker oder Tennisspieler, der sich weit weniger schindet als sie. Und noch nie Weltmeister oder gar Olympiasieger war. „Angemessen für den Aufwand, den ich betreibe, und für den gesundheitlichen Schaden, den ich nach 20 Jahren Leistungssport davontragen werde“, beziffert Kumbernuss ihren Verdienst. Dessen Höhe hat ihr Trainer und Lebensgefährte Dieter Kollark einmal in die Nähe des Kanzlermonatsgehalts (rund 25.000 Mark) gerückt. „Damit kann ich meinen Eltern, die ganz normale Durchschnittsverdiener sind, offen in die Augen schauen, ohne mich schämen zu müssen“, sagt Kumbernuss. Neidisch auf die Herren Sprinter, die für 150 Meter eine Millionengage kassieren? „Nee, ich fasse mir nur an den Kopf und frage mich: Was soll die ganze Scheiße?“

Das hat mit ihrem Realitätssinn zu tun, den sie auch nach den ganzen Erfolgen nicht verloren hat. Und damit, daß sie nur ihrer Kugel Höhenflüge gestattet, selbst aber am Boden haften bleibt. Dessen Tatsachen sind allerdings manchmal wirklich hart. Nach den Spielen in Atlanta, bei denen sie mit einer Weite von 20,56 Meter Gold gewann, rief einer an und bot rund 10.000 Mark, wenn sie nach Bremen zu seiner Veranstaltung komme. Was sie dort zu tun habe? Ringen. Die Sache war natürlich gestorben.

Für ihren Sport hingegen tut Kumbernuss so ziemlich alles. Beim Berliner Istaf ließ man sie letztes Jahr erst starten, nachdem sie via Presse verkündet hatte, sie stoße auch umsonst; die 3.000 Dollar Siegprämie spendete sie einer Tagesstätte für HIV-infizierte Kinder. In Troisdorf rettete sie, ebenfalls im vergangenen Jahr, eine Männerkonkurrenz, die vor der Absage stand, weil der Veranstalter kein Zugpferd finanzieren konnte. Kumbernuss kam, stieß sechsmal Weltklasse – und bekam dafür eine Schachtel Pralinen und eine Flasche Sekt. Der Wettbewerb war gerettet.

Das ist Ausdruck ihres Sendungsbewußtseins – und ihrer Professionalität. Keine andere Kugelstoßerin übt ihren Sport mit einer solchen Konsequenz aus. Kumbernuss braucht kein großes Meeting, um zu Topleistungen animiert zu werden. Ein Betonring irgendwo auf dem Land, Zuschauer, die ihr zujubeln, das reicht ihr schon, um so richtig in Fahrt zu kommen.

Das tut sie freilich auch, wenn die Rede auf Doping kommt, was immer noch nicht selten der Fall ist in diesem Metier. Kurz vor den deutschen Meisterschaften war es, als sie in einem ziemlich ernsten Brief an Helmut Digel, den Präsidenten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, die international zu laschen Dopingkontrollen verurteilte. „Ich setze mich für Fairplay und Gleichberechtigung von deutschen Sportlern im Vergleich zu anderen Athleten ein“, sagt sie. Mit Chancengleichheit nämlich habe es nicht mehr viel zu tun, wenn sie („Bei uns ist es zu 99,9 Prozent nicht möglich, unerlaubte Mittel zu nehmen“) antrete gegen bestimmte Konkurrenz, die meist aus dem Osten komme.

Das mußte Astrid Kumbernuss erfahren, als ihr bei der Hallen-WM in Paris die Ukrainerin Viktoria Pawlysch den Titel wegschnappte. Erstmals nach 53 Wettkämpfen verließ sie dort den Kugelstoßring nicht als Beste. Als „moralische Siegerin“ fühlt sie sich. Kumbernuss hat moralischen Argumentationsspielraum: Im Gegensatz zu anderen hat sie keine absurde Bestleistung aus den 80ern in den Annalen verzeichnet. Bei ihr geben sich die Dopingkontrolleure die Türklinke in die Hand – im Training ebenso wie nach den Wettkämpfen. Pawlysch, klagt sie, tauche stets kurz vor Events auf und verschwinde dann wieder.

Was davor und danach passiert? Etwas, womit Astrid Kumbernuss leben muß, auch bei der WM wird es wieder so sein. Derzeit übt sie noch in der Sportschule Kienbaum, am Montag fliegt sie mit Trainer Kollark nach Athen, Donnerstag ist ihr Wettkampf, und wenn alles mit einigermaßen rechten Dingen zugeht, kann sie niemand schlagen. Ansonsten gilt: Frau K. aus N. kann noch so schön, schlank, blond, schnell und technisch perfekt sein – wenn sie nicht gewinnt, ist die Königin tot. Dann aber wird auch das Reich der Riesinnen wieder in dichtem Nebeln verschwinden.