Großes Zittern im Oderbruch

Eben wurde der Deich bei Hohenwutzen repariert. Jetzt hat er schon wieder neue Risse. In den Dörfern des Oderbruchs sitzen Tausende auf gepackten Koffern  ■ Von Jens Rübsam

Er war gerade mal vier, da ist das Elternhaus abgebrannt. Er war 13, da ist das Elternhaus abgesoffen. Jetzt ist er 63, das Häuschen in Neuranft, mitten im Oderbruch, ist schon lange seins. Und schon wieder gefährdet. Nach der Wende hat er gebaut und gebaut, „auf einmal gab es ja alles“. Ein neues Dach, eine neue Heizung, einen neuen Stall, ein paar 100.000 Mark hat er reingesteckt. Jetzt steht der Bauer mit der speckigen Schiebermütze hier, auf der Anhöhe in Hohenwutzen, starrt hinüber auf das Nadelwäldchen, das dem reißenden Strom trotzt. Hinter den Bäumen ist der Deich. 50 Meter Damm sind am Nachmittag abgerutscht. Es heißt, er könne jede Minute brechen. Im schlimmsten Fall, so die Berechnungen, könnte das Wasser im Oderbruch sieben Meter hoch stehen.

Kurz vor acht, südlich von Hohenwutzen, wo der Oderdeich gerissen ist. Hubschrauber tauchen reihenweise ab hinter dem kleinen Nadelwäldchen, werfen fünf Tonnen schwere Netze mit Sandsäcken auf den brüchigen Oderdeich. Die rund 100 Deich-Soldaten hat man schon von der Rißstelle abgezogen. „Anders ging es nicht mehr, da der Deich abzurutschen droht“, sagt Oberleutnant Markus Richter. Die Gefahr für Leib und Leben der Bundeswehrsoldaten sei zu groß geworden. Jetzt könnten nur noch die Transporthubschrauber helfen, wenn überhaupt.

Im Minutentakt heben sie ab von der Abfüllstelle am Ortseingang von Hohenwutzen, 1.300 Meter Luftlinie von der Gefahrenstelle entfernt. Lkw rasen die Neuglietzener Straße entlang, unterhalb des etwas höher gelegenen Hohenwutzen. Sie sind beladen mit sogenannten Faschinen, gebündelten Bergen aus Kiefernholz. „Die haben die Aufgabe, das am Deich durchsickernde Wasser abzuleiten“, sagt Bernd Vollborth vom Krisenstab. Ob es was nützt? Vollborth zuckt mit den Schultern. Nach 14 Tagen Hochwasser sind die Deiche aufgeweicht, „fast völlig durchgeweicht“.

Müllers räumen die Gärtnerei leer, die unterhalb der Neuglietzener Straße liegt, schon mittendrin im möglichen Überschwemmungsgebiet. Ein Mann schleppt eimerweise Kartoffeln ins Haus. Erntet, was noch zu ernten ist. „Bricht der Deich, sind unsere Gärten weg.“ Am Ende der Neuglietzener Straße, wo Hohenwutzen zu Ende ist, verharren die Dörfler und die Kameras der angereisten Journalisten mit Blick auf das Nadelwäldchen. Zu sehen ist nichts, nur die vielen Hubschrauber. Und die machen angst.

Der Alte aus Neuranft nimmt die Schiebermütze vom Kopf, wischt sich den Schweiß von der Stirn, starrt noch immer hinüber. „Man kann nicht anders als hoffen“, sagt er. Er hofft schon seit Tagen. Seitdem er weg mußte aus Neuranft. Die untere Etage seines Häuschens hat er leergeräumt. Die Möbel hat er auf den Boden gepackt. Aber, sagt der Alte, das nützt sowieso nichts, wenn das Oderbruch zur Badewanne wird. Jetzt ist er zu seinem Bruder nach Hohenwutzen gezogen. Mitgenommen hat er das Nötigste. Und die vier Schweine. Und die 60 Enten und Hühner. „Wenn der Deich bricht, steht das Haus bis zur Dachrinne unter Wasser.“ Ist wieder einmal alles verloren. So wie damals, nach dem Brand 1938, nach der Hochwasserkatastrophe 1947. Aber, sagt der Alte zu sich selbst, das sei halt die Oder. Und er, er sei ein Mann der Oder. Er werde nicht aufgeben. „Die Frau und die Kinder sind gesund. Das ist doch das Wichtigste.“

In den Dörfern rundum wird inzwischen weiter evakuiert. Seit Mittwoch nachmittag, als die Sirenen heulten, die Kirchenglocken im Oderbruch läuteten. Für die verbliebenen Bewohner der 16 unmittelbar betroffenen Ortschaften zwischen Hohenwutzen und Güstebieser Loose das letzte Warnzeichen. Schon vor Tagen hatten 5.000 Einwohner das Gebiet verlassen, 650 aber waren geblieben. Jetzt wurden sie aufgefordert, die Region schnellstens zu verlassen.

Dann die nächste Eilmeldung im Radio. Die Evakuierungszone wird auf zwei Drittel des 650 Quadratkilometer großen Odergebietes ausgedehnt. Auch die Bewohner des mittleren Oderbruchs sollen ihre Häuser verlassen. Insgesamt 15.000 Menschen.

Familie Muth ist nicht gegangen. Heinrich Muth ist Bauer und steht vor seinem Hoftor in Bochows Loos. Eine knappe halbe Stunde ist es von hier aus bis zur Oder. Es ist kurz vor Mitternacht. Er will nur noch schlafen. Ob er schlafen kann? Er weiß nicht.

Vor ein paar Stunden ist den Muths per Telefon vom Katastrophenschutz mitgeteilt worden: Ihr müßt das Haus verlassen. Ihr müßt die Schweine wegbringen. 300 Schweine evakuieren? In zwei Stunden? Wohin? Wo die Hänger zum Transport hernehmen? Wohin die Schweine bringen? Woher das Geld dafür nehmen? Fragen, auf die Bauer Muth keine Antwort hat. Er ist stinksauer. Keinen Pfennig werde er für die Evakuierung seines kleinen landwirtschaftlichen Betriebes bekommen, habe man ihm gesagt. „Wir wären am Ende“, sagt Helga Muth. Eine Versicherung haben sie nicht. „Die ist immer und immer erhöht worden.“

Bauer Muth schlägt das Hoftor zu. Er kann nur abwarten. Und wenn das Wasser kommt, diese Nacht? Dann sei sowieso alles futsch. Dann könnten die Schweine auch gleich absaufen.

Am Morgen kommt das erste Aufatmen. Der Bundeswehr ist es gelungen, die 50 Meter lange Schadstelle abzudichten, teilt ein Sprecher des Krisenstabes mit. Wenige Stunden später geht alles von vorne los. Neue Risse, diesmal rund 100 Meter neben der eben reparierten Stelle. Die Hubschrauber fliegen wieder los.