Stumme Wut und tiefe Verzweiflung

■ Auf dem jüdischen Markt in Westjerusalem waren am Tag nach dem Bombenattentat die antiarabischen Ausbrüche und die wüsten Beschimpfungen gegen die israelische Regierung stiller Trauer gewichen. Aus Jerusa

Stumme Wut und tiefe Verzweiflung

In der Mitte der Gasse steht eine Vespa. Der Schlüssel steckt noch im Zündschloß. Ein paar Tomaten, Gurken und Paprika liegen in dem kleinen Korb hinter dem Rücksitz. Auf dem Trittbrett der Vespa stehen ein halbes Dutzend Teelichter. Der Wind hat einige ausgeblasen. Ein alter Mann, der in einem Strom von Neugierigen und Trauernden vorbeigeht, bückt sich und zündet sie wieder an. Niemand rührt die Vespa an. Eine junge Passantin meint, die Vespa solle als Mahnmal stehenbleiben.

Im Gegensatz zum Vortag gibt es keine Hektik, keine Aufregung, keine lauten Schreie und auch keine Anklagen auf dem Mahaneh Jehuda, dem jüdischen Markt in Westjerusalem. Es herrscht eine Art stummer und tiefer Verzweiflung. Einige Menschen drücken den Geschäftsleuten, die vor und in ihren zertrümmerten Läden stehen, die Hände. Trauer und Mitgefühl sind auf allen Gesichtern zu lesen. Etwa die Hälfte der Läden in der Gasse sind geschlossen.

15 Menschen sind tags zuvor infolge der Explosion zweier Zehn- Kilo-Bomben auf dem Marktplatz getötet, 170 weitere verletzt worden. Zu dem Attentat bekannte sich die radikalislamistische Organisation Hamas. Die Menschen auf dem Mahaneh Jehuda Markt erlebten am Mittwoch nicht das erste Attentat, aber von den bisherigen acht war es das schlimmste. Eine vergleichbare Zahl an Opfern gab es nur am 23. November 1968. Damals explodierte ein mit 42 Kilogramm Sprengstoff beladener Wagen vor einem Friseurladen; 12 Menschen wurden getötet und 52 verletzt. Gegenwärtig befinden sich nach Polizeiangaben noch etwa 80 Personen in Krankenhäusern, sieben von ihnen in einem kritischen Zustand.

„Die schwer Verwundeten waren ganz still“

Drei Soldaten stehen an diesem Donnerstag morgen genau an der Stelle, an der sich einer der beiden Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt hat. Ein Lebensmittelladen am anderen Ende der Gasse, wo sich der zweite Attentäter Sekunden nach dem ersten in die Luft gesprengt hat, ist schon fast ganz leergeräumt. Nur ein paar Dosen mit Oliven und Bohnen stehen noch im hinteren Regal. In der zertrümmerten Theke vor dem Geschäft liegen ein paar schwarze und grüne Oliven. Die Glasfront der großen Kühlschränke ist in Tausende von Splittern zerborsten. Das Glas liegt zusammengekehrt in einer Ecke. Zerbogene Aluminiumstreben ragen aus der Decke, in der ein großes Loch klafft. Die Überdachung der Gasse gleich neben dem Geschäft ist völlig weggesprengt. Ein paar aufgetaute Hamburger liegen noch auf der Straße.

Am anderen Ende der Gasse sind drei Angestellte damit beschäftigt, die Schuhe aus einem demolierten Laden zu tragen; die ohnehin kleine Straße wird nun durch einen Haufen durcheinandergeworfener Schuhe und leerer Schuhkartons blockiert. Die Holzdecke im Innern des Ladens ist zersplittert. Einige Dachlatten ragen ins Ladeninnere. Die meisten Ladenbesitzer wollen nicht reden, nicht das Grauen wiederholen, das sich am Mittwoch nachmittag hier zugetragen hat. Nur der Metzger in der Mitte der Gasse hat seine Theke gefüllt und verkauft seine Fleischwaren. Und es gibt tatsächlich auch eine Reihe von Kunden, die demonstrativ hier einkaufen. In den anderen Gassen und Straßen des weitläufigen Marktes geht der Verkauf normal weiter. Doch es sind sichtlich weniger Menschen zum Einkaufen gekommen als sonst. Und die Gesichter derjenigen, die über den Markt gehen, sind ernst.

Ein Reserveoberst der israelischen Armee, der Augenzeuge der Explosionen war, beschreibt, was er gesehen hat: „Ich war auf dem Weg zu meinem Büro“, erzählt er. „Zuerst gab es eine Stichflamme. Dann kurz hintereinander die beiden Explosionen. Ich sah, wie eine Frau durch den Druck der Explosionen wie in Zeitlupe in die Luft gehoben wurde und in Zeitlupe wieder herunterfiel. Sie war auf der Stelle tot. Sardinendosen, Früchte, Gemüse und Körperteile der zerfetzten Menschen flogen durch die Luft. Viele Menschen schrien durcheinander. Aber die schwer Verwundeten waren ganz still.“

Eine Frau erzählt einem ausländischen Fernsehteam noch einmal den Schrecken: „Ich sah Hände, Füße über die Straße rollen. Und sehr viel Blut. Es war ganz furchtbar.“ Ein etwa 50jähriger Mann mit langen Schläfenlocken meint: „Die Regierung hat Schuld. Sie hat Frieden und Sicherheit versprochen. Und was haben wir?“ Im Gegensatz zu Mittwoch gibt es aber keine antiarabischen Ausbrüche mehr. Und auch keine wüsten Schimpfkanonaden gegen Politiker.

Bereits wenige Stunden nach dem Attentat waren am frühen Mittwoch abend Hunderte Menschen in die Krankenhäuser der Stadt gekommen, um Blut für die Opfer zu spenden. Die städtischen Psychologen, die seit mehr als 70 Tagen für eine Gehaltserhöhung streiken, unterbrachen ihren Streik, um traumatisierten Opfern ihre Hilfe anzubieten.

„Es muß wohl erst wieder Krieg geben“

Viele derjenigen, die Angehörige auf dem Markt vermuteten, stürmten durch die Polizeiabsperrung, um nach ihnen zu suchen. Auf dem Markt selbst nahm die Polizei anderthalb Stunden nach dem Attentat zwei Palästinenser fest, die von der wütenden Menge angepöbelt und geschlagen wurden. „Es muß wohl erst wieder Krieg geben“, sagte eine etwa 50jährige Frau. Eine andere machte den Führer der Meretz-Partei, Yossi Sarid, für die Anschläge verantwortlich. „Er ist ein Araber“, schrie sie voller Verachtung. Und mit einer eindeutigen Handbewegung zeigte sie an, daß man ihm die Kehle durchschneiden sollte.

Andere Menschen schrien einfach auf der Straße, um ihrer Empörung Luft zu machen. Ein Geschäftsinhaber berichtete, daß auf dem Markt auch viele Palästinenser arbeiten. „Mit denen haben wir eigentlich keine Probleme, und nun das“, sagte er. Der Markt werde gerade von den weniger gut situierten Bevölkerungsschichten besucht, weil die meisten Produkte hier um ein Drittel oder die Hälfte billiger sind als in den Supermärkten der Stadt. „Sie haben es auf die Armen abgesehen“, fügte er hinzu.

Während die Innenstadt Westjerusalems an einem normalen Nachmittag mit Autos zugestopft ist, waren die Straßen am Mittwoch fast leer, viele Geschäfte hatten vorzeitig geschlossen.