Ottograffi is schwär

Ein kleines Ein-Frau-Institut in Hamburg-Barmbek kümmert sich um Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten  ■ Von Karin Flothmann

„Du gibst zu schnell auf“, meint der Computer. Sven stört das nicht weiter. Immerhin geht's hier nicht um den Sinn der Wörter, hier geht's ums richtige Schreiben. „Du ... zu schnell auf“, lautet die nächste Zeile auf dem Bildschirm. Sven liest sie und haut in die Tastatur: „g...i...b...s“lautet das fehlende Wort – und zack, die Return-Taste gedrückt. Weiter im Text, die nächste Übung bitte. Is nich, meint der Computer: Fehler! Nochmal von vorn. „Oh nee!“stöhnt Sven und wirbelt mit seinem Bürostuhl einmal um die eigene Achse. „Was war denn daran falsch?“Kurzentschlossen tippt er nochmal: „g...i...b...s“. Wieder eine Fehlermeldung. Sven runzelt die Stirn und stiert gequält erst auf den Bildschirm, dann aus dem Fenster. Sein abschließender Kommentar: „Der will mich nur ärgern, der Computer.“

Sven geht zur Realschule. Die sechste Klasse hat er gerade so geschafft, ob er durch die siebte kommt, ist ungewiß. Schuld daran ist die Sache mit dem Schreiben und Lesen. Denn damit steht der Zwölfjährige auf Kriegsfuß. Zu Hause tagte der Elternrat, dann, vor einigen Wochen, meldete Svens Mutter ihren Sohn bei LOS an. LOS, das meint „Lehrinstitut für Orthographie und Schreibtechnik“. Rund 50 solcher privater Institute gibt es inzwischen bundesweit, eines davon in Hamburg-Barmbek.

„Ich hab all die Kinder, die mit der schulischen Förderung überhaupt nicht mehr klarkommen“, sagt Maren Brennecke. Im Oktober vergangenen Jahres eröffnete die gelernte Gymnasiallehrerin ihr Ein-Frau-Institut. Rund 300 Mark müssen Eltern monatlich zahlen, zweimal zwei Stunden Unterricht pro Woche bietet Brennecke im Gegenzug – in kleinen Gruppen von Gleichaltrigen. In der Regel schließt sie gleich Jahresverträge ab, „denn mit ein, zwei Monaten ist es ja nicht getan, das wär' Augenwischerei“.

Die private Nachhilfe in puncto Rechtschreibung leisten sich vor allem Eltern der Mittelschicht. „Nur eines meiner Kinder kommt aus den Elbvororten und wird immer vom Kindermädchen gebracht“, betont Brennecke. Ihre Zöglinge besuchen Hamburger Grund-, Real- oder Gesamtschulen. Zur „Hauptklientel“zählen die Viertkläßler, denn da geht's um die weiterführende Schulart, „und spätestens dann kommt für die Eltern oft das böse Erwachen“.

Im Klassenzimmer des Instituts dreht sich inzwischen alles um Dehnungen und Dopplungen. Die treiben Sven regelmäßig an den Rand der Verzweiflung. Warum wird „Moor“mit Doppel-O geschrieben, „Tor“aber nicht? Warum steht bei „Wahl“ein H und nicht bei „Qual“? Da hilft nur stures Pauken. Jonas, Patrick, Inga und Sören geht es ähnlich. Die vier sind schon „seit nach den Winterferien“dabei. Der Cassettenrecorder wird angeworfen. Alle sitzen vor ihren Computern. „Fell“, diktiert die Stimme vom Tonband und gibt dann langsam die Laute vor: „f“, „e“, „l“– drei an der Zahl sind es. Daß das Wort dennoch mit zwei L geschrieben wird, ist allen klar. Immerhin geht's heute nur um solche Wörter.

Eine Variation der Übung folgt: Langsam und stetig diktiert die Stimme vom Band ganze Sätze. Im Computer sind die gleichen Übungen gespeichert. Der Satz taucht auf, nur das Wort mit Doppel-L fehlt. „Ihre Augen mußten sich erst an die ... gewöhnen.“HELLIGKEIT hackt Jonas in den Computer – und schon ist er bei der nächsten Übung. Die Stimme vom Tonband hinkt hinterher. Patrick reckt seinen Hals, um einen Blick auf Jonas' Bildschirm zu erhaschen. „Ey! Der guckt dauernd ab!“empört sich Jonas und dreht seinen Bildschirm zur Seite.

Schnell weiter! „Beim Metzger kriegt die Wurst eine ...“Jonas weiß es nicht. Verdammt! Der Blick zu Patrick hilft auch nicht weiter. Jonas wird zappelig, rollt mit seinem Stuhl vor und zurück, vor und zurück. „Pelle“diktiert endlich die Cassettenstimme. Jonas haut in die Tasten – und schreibt „Kelle“. Schnell, schnell, er will doch als erster fertig werden. Der Computer meldet: Fehler! „Verdammt, wie blöd von mir!“Die Korrektur kostet Zeit – und Patrick zieht vorbei: „Fertig!“brüllt er und hat den Wettkampf gewonnen.

„Spielerisch lernen“heißt das Konzept. Rund acht Prozent aller Schülerinnen und Schüler im Alter von sechs bis 18 Jahren, so schätzt die deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, haben große Schwierigkeiten, wenn's ums Lesen und Schreiben geht. Lese- und Rechtschreibschwäche heißt heute, was früher Legasthenie genannt wurde. Die Weltgesundheitsorganisation WHO klassifiziert sie als Entwicklungsstörung. Kinder mit dieser „Teilleistungsstörung“, erklärt Maren Brennecke, hätten oft akustische Probleme, wenn es darum geht, Laute zu erkennen.

„Spielen wir jetzt richtig?“ruft Jonas. Alle wirbeln mit ihren Stühlen herum und rollen an den großen Tisch in der Mitte des Raumes. Maren Brennecke verteilt Spielkarten mit Buchstaben. Es gilt, Worte zu legen, wie beim Kreuzworträtsel. Sven wirft einen kurzen Blick in seine fünf Karten und schiebt sie gleich wieder zusammen.

Die anderen sind ganz bei der Sache. „Ich hab eins mit vier Buchstaben“, ruft Patrick. „Ich auch, ich auch“, schnabbelt Inga und zappelt wild auf ihrem Stuhl herum. „ODER“legt sie aus. Der Reihe nach ergänzen alle: übers R ein E, neben das E ein I. „Ich kann noch was, ich kann noch was“, Inga überschlägt sich fast vor Aufregung und rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. „Ich bin fertig!“ruft sie, als sie an der Reihe ist. Vor das O legt sie ein K, dahinter ein D: „KOD“. „Was soll das denn sein?“fragt Sören empört. Und der dreizehnjährige Patrick korrigiert gleich: „Kot wird doch mit T geschrieben.“„Wie gemein!“Inga rauft sich die Haare. „Wie gemein, gemein, gemein!“Dann eben nur das K für OK.

LOS – Lehrinstitut für Orthographie und Schreibtechnik, Wohldorfer Straße 9, 22081 Hamburg, Tel. 299 60 99