Forscher ohne Tabu

Reproduktionsmediziner in den USA wagen erstmals einen Keimbahneingriff  ■ Von Wolfgang Löhr

„Wie bei Dolly setzt uns die Forschung wieder einmal unter Zugzwang.“ Die Biologin Sabine Riewenherm vom Gen-Ethischen Netzwerk kann es kaum glauben: Während weltweit Bekenntnisse abgegeben werden, daß es den geklonten Menschen nicht geben wird, kam in den USA ein Mädchen zur Welt, das ihr Leben nur einem Keimbahneingriff zu verdanken hat. Das Team um den Reproduktionsmediziner Jacques Cohen am Saint Barnabas Medical Center in Livingston im US-Bundesstaat New Jersey hat damit zum ersten Mal überhaupt gewagt, bei einer künstlichen Befruchtung eine Manipulation der menschlichen Fortpflanzungszellen durchzuführen.

Seit über sechs Jahren schon hatte die 39jährige Mauren Ott versucht, mit Hilfe der Reagenzglasbefruchtung schwanger zu werden. Nach vier erfolglosen Versuchen hatte sie schon erwogen, beim nächsten Mal statt der eigenen Eizellen die einer Spenderin mit den Samen ihres Mannes befruchten und sich einpflanzen zu lassen. Vermutet wurde, daß in Otts Eizellen ein lebenswichtiger Wachstumsfaktor fehlte oder gar ein Defekt bei den Mitochondrien vorlag. Mitochondrien, auch Kraftwerke der Zellen genannt, sind bei allen höheren Lebewesen für die Energiebereitstellung verantwortlich. In jeder menschlichen Körperzelle gibt es Tausende dieser Organellen, in Eizellen sind es etwa 100.000. Das besondere an den Mitochondrien ist, daß sie eine eigene Erbsubstanz besitzen, die sich unabhängig von den 46 Chromosomen im menschlichen Zellkern vermehren kann. Zwar ist die Mitochondrien-DNA mit etwa 16.000 Basenpaaren im Vergleich zur Erbsubstanz im Zellkern mit rund drei Milliarden Bausteinen nur winzig, doch ohne sie sind die Zellen nicht lebensfähig.

Um den vermuteten Defekt auszugleichen, injizierten die Reproduktionsmediziner in Livingston wenige Mikroliter der Zellflüssigkeit, einschließlich einiger Mitochondrien, aus Spendereiern einer 29jährigen Frau in Mauren Otts Eizellen. Nach der Befruchtung mit dem Samen ihres Mannes und den ersten Zellteilungen übertrugen die Mediziner dann den Embryo auf Mauren Ott. Am 9. Mai gebar sie ihr Kind.

Mitte Juli berichtete Cohen in der Fachzeitschrift The Lancet über sein erfolgreiches Experiment. Mit keinem Wort ging er darauf ein, daß die fremden Mitochondrien möglicherweise noch in den Körperzellen des Kindes vorhanden sein könnten und später einmal ihre Erbsubstanz an die nächste Generation weitergegeben werden könnte. Selbst seinen Kollegen muß die politische Brisanz des Experiments entgangen sein. Proteste blieben bisher aus.

Bei einer Untersuchung in der 16. Schwangerschaftswoche konnten laut Cohens Bericht zwar keine fremden Mitochondrien mehr nachgewiesen werden. Trotzdem kann nicht ausgeschlossen werden, daß doch noch mitochondriale Erbsubstanz der Spenderin in den Körperzellen des Kindes vorhanden ist. Bisher weiß man nur sehr wenig über diese Zellorganellen. So vermuten einige Forscher, daß es eventuell auch zu einem Genaustausch zwischen den einzelnen Mitochondrien kommen kann.

Über ein grundsätzliches Verbot von Eingriffen in die Erbsubstanz der menschlichen Keimzellen wird schon seit langem gestritten. Bisher war das nur eine theoretische Auseinandersetzung, denn es gab keine konkreten Vorhaben, bei denen das unkalkulierbare Risiko eines Keimbahneingriffes vertretbar schien. Doch Mediziner und Gesundheitspolitiker setzten sich zunehmend dafür ein, daß zumindest die Option für diese Technik bestehen bleiben soll. In ferner Zukunft, so hieß es immer wieder, wenn die Methoden viel sicherer zu handhaben sind, sollte die Möglichkeit bestehen, sie zur Verhinderung von Erbkrankheiten anzuwenden.

Auch wenn noch viele Fragen offen sind: „Die Forscher in Livingston haben einen Keimbahneingriff zumindest in Kauf genommen“, meint die Molekularbiologin Regine Kollek, Professorin für Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt an der Universität Hamburg. Schon der mechanische Eingriff kann Folgen haben: „Es gibt einige Indizien dafür, daß Manipulationen am frühen Embryo durchaus längerfristige Effekte haben“, berichtet Kollek.

Bedenken hat auch der Lübecker Reproduktionsmediziner Professor Klaus Diedrich. Für ihn ist es „viel zu früh“, diese Methode am Menschen auszuprobieren. Seine ethischen Einwände beziehen sich nicht auf eine mögliche Veränderung der Keimbahn: „Man hätte erst einmal an Tierversuchen den Beweis erbringen müssen, daß es auch wirklich funktioniert.“ Diedrich schließt nicht aus, daß andere Faktoren für die erfolgreich verlaufene Schwangerschaft verantwortlich seien, „vielleicht war es sogar nur Zufall“. Cohen sei ja schließlich für sein „schnelles Handeln bekannt“. In Deutschland, da ist sich der Lübecker Mediziner sicher, wäre dieser Versuch nicht erlaubt worden. Nach dem deutschen Embryonenschutzgesetz sind Eingriffe in die menschliche Keimbahn unter Strafandrohung verboten. Aber als „richtigen“ Keimbahneingriff will Diedrich den Versuch auch nicht werten, schließlich wurden keine Eigenschaften des Embryos verändert.

Auch die Humangenetikerin Heidemarie Neitzel vom Virchow- Klinikum in Berlin kann sich durchaus vorstellen, daß ihre Fachkollegen das IVF-Experiment „kontrovers diskutieren“. Neitzel, die der Ethikkommission bei der Gesellschaft für Humangenetik angehört, meint aber: „Wir sagen deutlich, daß keinerlei Keimbahneingriffe stattfinden sollen, und dazu gehört nach meinem Verständnis durchaus auch die mitochondriale DNA“.

Im Unterschied zu einigen europäischen Ländern gibt es in den USA kein Bundesgesetz, das Keimbahneingriffe verbietet. „Die haben dort überhaupt keine Probleme damit“, erklärt der Frauenarzt Ludwig Bispink, der in der Deutschen Klinik für Fortpflanzungsmedizin in Bad Münder für die IVF zuständig ist. Es zeige sich aber auch: „Wir sind in einer Phase wo sehr viel passiert“, meint Bispink, „und wir werden die Etablierung nicht aufhalten können.“