Das Portrait: Atemberaubender Riese
■ Swjatoslaw Richter
Die Wirkung eines Pianisten auf sein Publikum wird allgemein am Beifall gemessen. Je brausender die Schlußoktaven, desto donnernder der Applaus. Erlebte musikalische Intensität läßt sich aber besser an den unwillkürlichen Lautregungen der Hörer erlauschen: an der Stille, die vorweg herrscht, an den Geräuschen der Erleichterung, die dem Schlußakkord folgen. Wenn Swjatoslaw Richter die unendliche Verlassenheit von Debussys Prélude „Des pas sur la neige“ endigte, rang seine Hörerschaft nach dem Atem, den ihm das Spiel geraubt hatte. Atemberaubend an Richter war nicht seine Virtuosität, denn technische Schwierigkeiten waren ihm kein Thema. So konnte er direkt zu den musikalischen Belangen durchgreifen und frei von spielmechanischen Beschränkungen sich ausschließlich um die Gestaltung der Musik kümmern.
Swjatoslaw Teofilowitsch Richter, in Schitomir/Ukraine am 20. März 1915 geboren. Gesegnet mit riesigen Händen, denen Duodezimakkorde noch bequem lagen (mit so einem Griff kann man glatt 20 CDs auf einmal aufheben), gehörte er zu der Vielzahl der russischen Virtuosen, die als Pianisten geboren scheinen. Die achtundachtzig Tasten waren ihm das Laufställchen der frühen Tage, wo er sich das Klavierspielen spielend selbst beibrachte. In Moskau zeigte ihm ab 1937 Heinrich Neuhaus – der letzte große Lehrer der „russischen Schule“ – die Generalstabskarten des pianistischen Universums.
Richter gab erst spät, als Dreißigjähriger, dann aber gleich eine Unmenge Konzerte, in denen er das titanische Repertoire, das sich von Bach bis Berg aufspannt, bewältigte. 1949 hat er den Stalin-Preis abgeräumt, denn auch die verordneten real existierenden Sonaten, etwa von Prokofjew, spielte er brav. Vom Eisernen Vorhang zurückgehalten, war er im Westen eine Legende, noch bevor Plattenaufnahmen von ihm kursieren konnten. Seine Recitals, die ab 1960 im Westen stattfanden, wurden Kult, wurden zu Andachtsstunden, zum Dienst an den Musen, den er in den folgenden Jahrzehnten zu deren und unserer vollständiger Zufriedenheit verrichtete.
In Moskau ist am 1. August der sanfte Riese mit dem kantigen Kopf in seinem 82sten Lebensjahr vom Tod gefällt worden. Die Götter werden ihn, eigennützig wie sie sind, zu ihrer Tafelrunde abberufen haben. Möge der Übertritt zu den ewigen Konzerthallen ein friedlicher gewesen sein. Frank Hilberg
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