Warten auf Liebe

Die Frau in einem Gewand aus Haut. Voller Erwartung. Ich hebe die Hand. Sie verlangt nach dem Arm. Ich schultere sie. Wir gehen der Nymphe nach  ■ Von Zafer Șenocak

Ich heiße Sascha. Ich bin fünfunddreißig. Durchschnittlich an mir ist nicht nur mein Alter. Auf was bin ich stolz? Ich habe keine Schulden, keinen Beruf und keine Frau. Ich ernähre mich von den Erfahrungen meiner Kindheit. Ich nutze die Neugier der Leute aus, um sie in die Irre zu führen. Sie lieben es, irregeführt zu werden. Also erzähle ich Geschichten, die allesamt belanglos sind, aber zwei Vorteile haben. Der erste Vorteil ist, daß sie kurz sind. Selbst die, die meine Geschichten nicht mögen, lesen sie zu Ende, weil sie bis zum Schluß auf eine Pointe, eine überraschende Wendung oder etwas Ahnliches hoffen, was den Wert der Geschichte in ihren Augen erhöhen könnte. Der zweite Vorteil ist, daß ich Geschichten über Leute schreibe, die auch Geschichten schreiben. So brauche ich mich auch in diesen Fällen nicht weit von mir selbst zu entfernen. Ich schreibe sowieso ausschließlich über mich. Die Frauen in meinen Geschichten sind, solange sie in den Geschichten verweilen, ein Teil von mir. Ich habe sie okkupiert, ihrer künstlichen unbedeutenden Welt entrissen und ihrer wahren Berufung zugeführt.

Klara zum Beispiel, die es gewagt hat, mich in der U-Bahn anzusprechen, war danach monatelang mit mir unterwegs, obwohl sie ein hochverschuldetes Brautkleidgeschäft übernommen hatte, das ihre Zeit sehr in Anspruch nahm. Was sie zuvor gemacht hatte, interessierte mich nicht. Sie war eine Geschäftsfrau, hatte diese von mir schon immer bewunderte Fähigkeit, trotz eines riesigen Lochs auf dem Bankkonto ein verschwenderisches Leben zu führen. An mich verschwendete sie nicht nur ihre Mittel, sondern sich selbst. Ich hatte ihr vorgeschlagen, das Geschäft aufzugeben und meine Managerin zu werden. „Und was gibt es bei dir zu managen?“ fragte sie mit spitzem Gesichtsausdruck. „Hast du eine schöne Stimme, oder bist du ein begnadeter Redner oder ein einfallsreicher Drehbuchautor?“ Ich mußte alle diese Fragen verneinen, konnte sie aber dennoch dafür gewinnen, unangenehme Telefonate für mich zu erledigen. Oft waren es Redaktionen, die schon seit Tagen auf ein Manuskript von mir warteten. Termine, die ich auf keinen Fall mehr einhalten konnte, Absagen von früheren Zusagen. In meiner Branche wird man mit der Zeit schroff. Niemand ist ernsthaft mit jemand anderem beschäftigt. Jeder versucht, den anderen zu verwerten, eine gegenseitige Zuhälterei. Ein älterer Kollege vertraute mir einmal an: „Ich habe in dieser Branche in vierzig Jahren drei Menschen kennengelernt, einer von denen hat sich erhängt, der andere wurde Alkoholiker, der dritte wechselte nach mehreren Rausschmissen den Beruf.“ Wenn man drinbleiben will, muß man das Gras wachsen hören, um sich rechtzeitig taub zu stellen. Mein Problem war die andauernde Taubheit. Ich berichtete eigentlich nur über mich und tarnte diese Berichte mit äußeren Ereignissen und aktuellen Themen, die ich behandeln mußte und die fern von mir ihren eigenen Gesetzen folgten. „Ihre Distanziertheit gefällt mir“, war das Kompliment, was ich oft hörte, „wie sehr Sie das Wesentliche zu Ihrem Thema herstellen.“ Das Wesentliche, ja, es handelt sich dabei um ein geometrisches Prinzip, man muß sich nur im richtigen Winkel zu den Dingen stellen, nicht zu geschlossen und auch nicht zu weit offen. Und dann picken wir mit der Zirkelspitze die Wahrheit auf. Je weiter sie von uns weg ist, um so beruhigter können wir schlafen.

„Es wird Zeit, daß ich dir einen Kaffee koche.“ Frauen sind seltsam. Ein solch kurzer, harmloser Satz kann dazu führen, daß sie sich ein Leben lang an einen binden. Klara war nach diesem Satz bei mir geblieben, nachdem wir uns nach dem ersten Mal eine Weile nicht gesehen hatten.

„Ich reiße mir im Büro den Arsch auf, während du den ganzen Tag deinen Pimmel rubbelst!“

Die Haustür knallt. Das waren die letzten Worte, die ich von ihr zu hören bekam. So schnell kann der Kaffee kalt werden. Wie lange dauert sie, die lebenslange Bindung, eine Woche? Drei Monate? Ein Jahr? Sieben Jahre? Tatsächlich lebenslang? Solange ich diese Frage nicht überzeugend beantworten kann, steht meine Tür jedem offen. Auch denen, die kommen, um bei mir ihren seelischen Sondermüll endzulagern.

Irgendein Weg führt immer ins Bett. Mediziner sollen festgestellt haben, daß Geschlechtsverkehr das Gedächtnis schwächt. Ich weiß nicht, warum das Menschengeschlecht seit Generationen damit beschäftigt ist, die Nachteile des Geschlechtsverkehrs zu erforschen. Aber dies ist nun endlich eine gute Nachricht. Sie vögeln und vergessen, je mehr Sex, um so mehr können Sie vergessen. Die traurigsten Menschen sollten damit gar nicht mehr aufhören.

Wenn eine Frau zu mir kommt, um sich auszuweinen, wird sie natürlich in dieses Geheimnis eingeweiht. Und da gibt es welche, die mich mit Entrüstung anschauen, zu ihren bereits abgelegten Kleidern greifen und wortlos gehen. Verstehen Sie das?

Vielleicht schreibe ich einmal ein Buch über diese Ungereimtheiten. Aber das hat noch Zeit. Im Moment ist der Islam das Thema. Er verdrängt sogar den Sex. Bis vor kurzem wußte ich nicht viel über den Islam, außer daß mein Großvater dieser Religion angehört hat, was dazu geführt hat, daß mein Vater ein gottloser Mensch geworden ist. Nun, als mich der Redakteur anrief, um bei mir einen Artikel über ein spezielles Problem in der islamischen Tradition zu bestellen, wollte ich zuerst mit meiner Gewohnheit brechen, jedes Angebot anzunehmen, zumal ich bis dahin von diesem speziellen Problem, das er ansprach, nichts gehört hatte. Aber die Zeitung hatte viele Leser und, noch wichtiger, zahlreiche zahlungskräftige Anzeigenkunden, was für ein gutes Honorar sprach. Außerdem stand sie nicht links, wie die meisten anderen Blätter, für die ich aus Solidarität schrieb, was die Anfrage sogar zu einer seltenen, kostbaren, ja für mich unwiderstehlichen Sache machte. „Gut“, sagte ich, „ich schreibe für Sie über das Verhältnis von Fatwa und Literatur. Ich brauche vierhundert Zeilen.“ Wir kamen überein. Fatwa – dieses Wort hatte ich im Zusammenhang mit diesem Kollegen gehört, der von einem Zeloten zum Tode verurteilt worden war, weil er den Koran, wie viele andere vor ihm, als amüsante literarische Grundlage entdeckt hatte. Aber was das mir gestellte Thema nun wirklich bedeutete, so daß ich darüber schreiben konnte, das wußte ich beim besten Willen nicht.

Übrigens habe ich nie verstanden, warum der alte Mann sich über unseren Kollegen so aufgeregt hat. Ich finde, die heiligen Bücher sind wie Malbücher. Sie werden uns schon im Kindesalter in die Hand gedrückt, damit wir darin ungezwungen malen können.

Von meinem Großvater, dem ich meinen türkischen Nachnamen und somit meinen Status als Islam- Kenner verdanke, wird folgender Gedanke überliefert:

„Wenn man ein Wort nicht kennt, soll man nicht nur in ein Lexikon schauen, sondern auch aus dem Fenster, besser noch, man soll sich das Wort vor dem Schlafengehen dreimal aufsagen, denn im Lexikon steht nur eine lexikalische Bedeutung und nicht sein Lebenssinn, draußen kann man schon eher enträtseln, wozu ein bestimmtes Wort existieren darf, die endgültige Entschlüsselung von Sinn und Bedeutung aber liegt im Traum verborgen.“

Es ist wunderbar, wenn man die Welt des Großvaters mit der eigenen verbinden kann, aber ich hatte weder Zeit, aus dem Fenster zu schauen noch zu träumen, denn zwei Tage später war Abgabetermin. Also griff ich nach dem Lexikon der islamischen Welt. Wie klein und handlich eine Welt wird, wenn sie in einige Worte zerfällt und in anderen spärlichen Worten wieder zusammengefaßt wird. Ich schrieb die Erklärung des Begriffs, die ich suchte, ab und setzte mich an den Tisch. Mir mußten wohl beim Abschreiben einige Flüchtigkeitsfehler unterlaufen sein, denn wenige Tage nach dem Erscheinen meiner Abhandlung erhielt ich einen in Handschrift verfaßten Brief eines weltberühmten Orientalisten, der mir diese Fehler und noch zwei andere Fehler, die mir der Setzer der Zeitung eingebaut hatte, nachwies, ansonsten aber meinem Artikel fundierte Kenntnisse und einen kreativen, stellenweise sogar inspirierten Umgang mit der wissenschaftlichen Forschung bescheinigte.

Ich frage mich, wann es endlich so weit ist, daß mir jemand zu meinem eigentlichen Thema gratuliert. In den Redaktionen, für die ich schreibe, ist nichts über mein Doppelleben bekannt. Dies wäre ein Grund mehr gewesen, um Klara als Managerin einzustellen. Sie hätte meine Texte und ihren Körper gleichzeitig vermarkten können, die Kunden wären dieselben, die Wege kurz, ich machte eine gute Figur nicht nur als phantasiebegabter Schreiberling, sondern als ein toller Hecht, dessen Frau ein wenig fremdgeht, das sind doch die eigentlichen Stoffe unserer Zeit. Aber in den Redaktionen sitzen zu viele gehemmte Nachkommen prüder Protestanten, die lieber den Islam zum Thema machen wollen als die interkulturelle Geilheit. Nicht einmal mit dem zugefügten Adjektiv interkulturell konnte ich bisher die Aufmerksamkeit für meine Passion erregen. Ansonsten zieht das immer, wenn man ein abgestandenes Thema an den Mann bringen will.

Ich werde schon fertig mit meinem Leben. Meine Uhr läuft nicht langsamer als die Uhr anderer. Es ist aber schmerzvoll, wenn ich meinem Leben die Luft abdrehe, es fessele und mit einem dicken Rotstift vergewaltige.

Auf meinem Tisch liegen noch andere Instrumente, die mir dabei helfen, die Menschen irrezuführen. Mein Schreibtisch ist der kleinste Irrgarten der Welt.