Metrostopp Suburbia

Nächster Halt Dorfalm. Welche Stadt wollen die Neuen Urbanisten? Eine Safari zwischen Kernstadt und Peripherie. Die Zürcher Konferenz „Possible Urban Worlds – Theorie und Aktion in Weltstädten und lokalen Orten“  ■ Von Jochen Becker

Die „Europäische Stadt“, wie sie die Neuen Urbanisten erträumen, hat ganz offensichtlich nichts mit den real existierenden Ballungszentren von Lissabon bis Kiew zu tun. Das Wunschdenken von kompakten, wohlgeformten und klar begrenzten Gebilden für den flanierenden „Stadtbürger“, der weiß, männlich und bessergestellt ist, verwehrt sich dem vor Ort Bestehenden. Der Neue Urbanist sehnt sich nach Arkadien: „Eher erscheint hier eine Orientierung an der weiträumigen Piazza del Duomo in Mailand als Leitbild wünschenswert“, formulierte jüngst der vom Berliner Senat beauftragte Architekt Manfred Ortner und meint den Breitscheidplatz. Heute sei der Platz rund um die Gedächtniskirche einzig „Abstellfläche für menschliche Unzulänglichkeiten“, womit Ortner demonstriert, daß ihm das Bestehende so fern ist, wie es das Erwünschte bleibt.

Weder romantisierendes Wunschdenken noch Kontrollszenarien, sondern „Possible Urban Worlds“ standen im Zentrum eines Zürcher Kongresses zu „Theorie und Aktion in Weltstädten und lokalen Orten“, veranstaltet vom International Network for Urban Research and Action (Inura). Wie also sehen die „möglichen urbanen Welten“ in der freien Wildbahn aus? Eine „Urban Safari“ genannte Exkursion führte zum Auftakt des Inura-Kongresses mitten hinein in die verwirrende Zone zwischen Kernstadt und Peripherie. Durch die Herausverlagerung von Geschäfts- und Bürozentren sowie Wohnungen stehen zentrale Funktionen der Innenstädte wie Versorgung, Aufenthalt und Begegnung in Frage.

Fern der historischen Altstadt entstehen sogenannte Backoffices wie Kraut und Rüben auf ehemaligen Äckern, wobei allein die voluminösen Gebäudekomplexe oder deren achsensymmetrische Anlage noch gewohnten städtischen Ordnungsmustern entsprechen. In den ausgelagerten Backoffices werden die Wertpapiergeschäfte elektronisch automatisiert abgewickelt, so daß die neugebaute Börse im Zürcher Stadtzentrum nun größtenteils leersteht. Andererseits entlasten diese zwischen Autobahnen und Schienentrassen entlangwachsenden Agglomerate die Innenstädte vom gesteigerten Verwertungsdruck, welcher dann auf angrenzende Wohngebiete übergeht.

Stadt- und Regionalentwicklung ist also ein komplexer Prozeß, der von wechselhaften Konjunkturen und wirtschaftlichen Bündnissen sowie politischen Machtverhältnissen geprägt ist. Hierbei ist es notwendig, zugleich die sozialräumlichen, kernstädtischen sowie peripheren Umstrukturierungen im Blick zu behalten, wenn beispielsweise zwei S-Bahn-Stationen hinterm künftig „Euro-Gate“ genannten Zürcher Hauptbahnhof der Metrostopp inmitten einer Alm liegt. Ein Gerichtsverfahren verhindert hier seit Jahren die Bebauung der nunmehr citynahen Gemeindeweide von Stettbach.

Von diesem an Martin Kippenbergers jüngste Skulpturen erinnernden Metroausgang inmitten der Heuschnupfenwiese führte die „Urban Safari“ über windige Dorfstraßen vorbei an Ballungszentren für Möbeldiscount, unkrautwuchernden Spekulationsbrachen, naturgeschützten Wäldern, an Wohnriegeln, Fachmärkten, Bürocontainern und kleinen Weilern inmitten von Autobahninseln. Am Rande einer gerichtlich erstrittenen Brache in Opfikon steht die postmoderne „Galleria“, wo sich mit 350 Firmen der schweizerische Textilgroßhandel ballt. Nebenan im „AirCenter“ machte kürzlich das Topmanagement von General Motors Europe auf halbem Weg zwischen Zürichs Banken und internationalem Flughafen Station, wobei sie vom deutlich niedrigeren Vorort-Steuersatz profitieren.

Wenn die Millionenregion Zürich de facto nur 350.000 StadtbewohnerInnen zählt, stellt sich die Frage nach dem Verbleib der restlichen zwei Drittel. Vielleicht entsteht aus Imbißbuden als urbanen Pionieren nahe der Europastraße und einem Flickenteppich von Fernsehstudios, dem Aral-Store neben zugewachsenen Arbeitersiedlungen und dem benachbarten Hotelkomplex bald schon eine neue Bandstadt am nordwestlichen Rand der City. Im Umland führt jedes Dorf seine eigene Standortpolitik, weshalb hier von Regionalplanung keine Rede sein kann. Nun soll eine vormals Skytrain genannte Trambahn all die Subzentren und verstreuten S-Bahn-Haltestellen im Glattal mit Innenstadt und Flughafen verknüpfen, so daß sich die Angestellten des Schweizerischen Bankvereins nicht mehr ihren Trampelpfad mit der Drahtschere quer durch Zäune bahnen müssen.

Im Anschluß näherte sich die Stadtsafari den ehemals industriell genutzten innerstädtischen Quartieren vom Käferberg aus. Hier überblickt man die postindustrielle Nutzung nördlich der Innenstadt. Unscheinbar steht hier das Verwaltungsgebäude der Telekurs AG, welche Börsenkurse, Electronic Cash und das Interbankengeschäft der Schweiz steuert. Trotz aufwendiger Sicherheitssysteme fielen an einem langen Donnerstag sämtliche 3.700 Bankomaten und 30.000 EC-direkt-Zahlstellen für über zwanzig Minuten aus. Die Computer der Telekurs verbrauchen ein Prozent des gesamten Zürcher Stroms, und das Gebäude ist mit 12.000 Security-Meßpunkten und dem Haupteingang Tiefgarage zumindest nach außen umfassend gesichert.

Beim Wandel der Industrie- zur Freizeitgesellschaft wird die Umnutzung bestehender Anlagen immer attraktiver, wie es der aktuelle Boom von Indoor-Go-Kart-Bahnen in Ostdeutschlands leergeräumten Fabrikhallen zeigt.

Das seit 1991 zum siebten Mal vom International Network for Urban Research and Action (Inura) an wechselnden Orten organisierte und erstmals öffentliche Treffen konzentrierte sich diesmal auch auf das Verhältnis von akademischer Stadttheorie und lokalen Aktionsgruppen. Und so trafen während der drei Konferenztage ReisetheoretikerInnen wie Saskia Sassen oder David Harvey auf VertreterInnen von Berliner Wagenburgen oder italienischen Sozialzentren, auf antirassistische Initiativen und ravende InstandbesetzerInnen. Eine politische Antwort auf die Attacke der Neuen Urbanisten und der zunehmenden sozialen und ökonomischen Polarisierung – so eine These der Konferenz – bieten möglicherweise neu zu formulierende „Flickwerke der Minderheiten“, also Koalitionen zwischen akademischer, antirassistischer und suburbaner Opposition. Angesichts der transnationalen Entwicklungen seien zudem multinationale Bündnisse aus StadtsoziologInnen, UrbanistInnen und sozialen, politischen und kulturellen Aktionsgruppen erforderlich. Der Druck nimmt zu, die Folgen des Neoliberalismus gerade auch auf örtlicher Ebene abzuweisen. Hierzu braucht es nicht zuletzt ein internationales Netz für städtische Forschung und Aktion, welches Inura in Ansätzen aufzeigte. Doch die klassische Arbeitsteiligkeit zwischen Theorie und Praxis wurde während des Treffens nur selten aufgekündigt. Die Berliner Politologin Margit Mayer formulierte den Zwiespalt in aller Härte, daß hier die „Objekte meiner Forschung“ anwesend seien. Der schwer zu lösende Konflikt zwischen bezahlten ForscherInnen, akademischem Mittelbau mit aktivistischer Vergangenheit auf dem Weg zur Universitätskarriere und eigeninitiativ operierenden Selbsthilfe- und Widerstandsprojekten durchzog die Konferenz bis hin zur Frage nach den hohen Tagungsgebühren. Doch letztlich wurden diese Widersprüche dann ebenso ausgespart wie das krasse Geschlechterverhältnis – die einzige Frau der Vorbereitungsgruppe saß draußen beim Empfang.

„Wir wollen die ganze Stadt“, forderte die Zürcher Jugendbewegung Anfang der 80er Jahre. Inzwischen scheint jedoch nicht nur die „Stadt“, sondern auch das „Wir“ fraglich. Der marxistische Geograph David Harvey erinnerte wähend der Konferenz daran, daß sich soziale Aktionsgruppen nun auch von rechts formierten oder die Privilegien der Mittelschicht verteidigten. Wie VertreterInnen der überregional operierenden „Innen-Stadt-Aktion“ (siehe auch die Beilage in der taz vom 2. Juni) in einem Workshop darlegten, trifft innerstädtische Ausgrenzung zunehmend die von Politik, Stadtbürgertum und organisierter Geschäftswelt ausgemachten „Minderheiten“.

„Exodus“ nennt sich ein Selbsthilfeprojekt „unvermarktbarer“ Personen (Ex-Knackis, Schwarze, Langzeitarbeitslose) aus Luton nördlich von London. Was 1992 mit Open-air-Raves als Reaktion auf den Ausschluß aus sozialen und kulturellen Orten begann, ist nun auch zwischen der Woche ein expandierendes Wohn- und Jobprojekt. Glen Jenkins, der als Sprecher, Sänger und Toaster „Exodus“ eine Stimme gibt, wehrt sich gegen den Vorwurf des antiurbanen Aussteigens: „Wir sind keine Hippies, keine Drop-outs. Wir können nicht zurück.“ Mit Besetzungen und demonstrativer Freude am Arbeitslosendasein setzen sie sich von bodenständigen Eigentumsvorstellungen ebenso ab wie vom Ethos der Arbeiterbewegung. „Exodus“ ist Resultat eines exzessiven Thatcherismus, gegen die sich eine tribal english culture formierte. Die britische Landbesetzerbewegung „The land is ours“ propagiert aus ähnlichen Gründen Selbsthilfe-Siedlungsformen auf Brachflächen, die in ihrer Bauweise aus Blech und Abfall allerdings eklatant an lateinamerikanische Favelas erinnern. Allerdings bedeutet nicht jeder ungepflasterte Platz die Zwangsverelendung.

Andreas Hofer vom insgesamt harmoniebesessenen Organisationsteam des Inura-Kongresses stellte denn auch überrascht fest, daß eigentlich alle vorgestellten Selbsthilfeprojekte nichts für Grund und Boden bezahlten. Somit würde ein zentraler Maßstab sowohl offizieller Stadtplanung wie staatlicher Eigentumspolitik partiell unterlaufen. Nun sind dies erst einmal recht partikulare Strömungen und zugleich Reaktionen auf soziale Polarisierung in Westeuropa und Nordamerika. Während Kummunalpolitik, Geschäftsleute und Investmentfonds die Städte besenrein fegen möchten, bleiben immer mehr VerliererInnen vor deren Türen hocken. Der verbleibende „öffentliche Raum“ untersteht widerstrebenden Nutzungsinteressen, gespalten zwischen international operierender Kapitalverwertung und Alltagsstrategien der nur unzureichend „Armutsbevölkerung“ genannten Personen, welche diese Orte für Kontakte oder Geldbeschaffung ebenso in Anspruch nehmen wie gehoben eingestufte Dienstleister oder H&M-Filialleiter.

Eine Buchdokumentation ist geplant. Nach der ersten Inura-Konferenz erschien 1996 im Zürcher Rotpunkt-Verlag das Buch „Capitales Fatales. Urbanisierung und Politik in den Finanzmetropolen Frankfurt und Zürich“, herausgegeben von Hitz/Keil/Lehrer/Ronneberger/ Schmid/Wolff