: Das Tor zur inneren Heide
Geburtserlebnis? Zonenrandgebiet? Visselhövede sehen heißt untergehen. Oder – unendlich weit weg von zu Hause – gesund werden ■ Text und Fotos Burkhard Straßmann
s ist nicht gefahrlos. Es bedarf einer gewissen seelischen Reife. Und nachher ist man ein anderer. Eine Reise nach Visselhövede ist ein Psychotrip, der uns hinter alles zurückwirft, was wir nach lebenslangem Abrackern und Abzappeln um unser zitterndes kleines Ich aufgebaut haben. Eine Reise nach Visselhövede führt uns zurück hinter die Linien der Lüge und der Prätention, hinter die mühsam errichteten Vorposten unseres herausgekrähten Selbstbewußtseins. Visselhövede ist die Stadt der Wahrheit, die wir eigentlich nie mehr hören wollten. Wer sich dieser Wahrheit aussetzt, kann untergehn. Oder er wird gesund.
Es fällt unendlich schwer, die Zeichen, mit denen uns Visselhövede begegnet, nicht als Appelle an unser Unbewußtes zu lesen. Die Kleinstadt, die nicht nur gleich nah an Bremen, Hannover und Hamburg liegt, sondern auch gleich weit weg, unendlich weit weg, umgibt sich mit Orten, die Schafwinkel, Kükenmoor und Tadel heißen. Reist man mit dem Auto an, zum Beispiel aus Richtung Rotenburg (Wümme), passiert man ein handgemaltes Wandbild, welches behauptet, Visselhövede sei das „Tor zur Lüneburger Heide“. Ein Tor! Natürlich ein Tor! Ein Tor kann offen oder verschlossen sein. Und jeder Entbundene (Ausnahme: Kaiserschnitt) weiß ganz genau: Man kann steckenbleiben.
Wer mit der Bahn anreist, die sich eingleisig von Bremen oder auch Uelzen aus nähert, ja quält, und die trotz großer Anfechtungen noch immer fährt – es gibt 17 Züge am Tag – die vielleicht sogar einmal noch viel mehr fahren wird, wenn die Welt je an einer direkten Bahnverbindung Bremen-Berlin interessiert sein sollte – wer also mit der Bahn anreist, den begrüßt sogleich ein Bahnhof, der genauso wüst und wund und rätselvoll ist wie die Seele des Reisenden. Die Bahnsteige wirken aufgegeben. Gras wächst zwischen den Bodenplatten. Neben Gleis 2 liegt unmittelbar Gleis 5, zwei Gleise sind offenbar unwiederbringlich verschwunden.
Graffiti an den Wänden behaupten: „Zonenrandgebiet“, und der Reisende spürt einen Stich im Herzen. „Zecken sollen sich verpissen“, liest man, „Ein Hoch auf Rudolf Hess“und „Grüße von den Skins aus Magdeburg“. Wahrheit suchen heißt nicht notwendig Wahrheit finden, denkt der Reisende in der unsäglich desaströsen Gleisunterführung von Gleis 2/5 nach Gleis 1. Schleim (!), Scherben und Aspirinschachteln regen seine Gedanken an. Von der Decke tropft es. „Satan lebt“, ohne Frage, und „Patrick bumbst mit Damien.“
In unmittelbarer Bahnhofsnähe finden sich zwei Tankstellen. Visselhövede beherbergt – ohne Umlanddörfer – 5.000 Einwohner, denen die Dienste von insgesamt sieben (!) Tankstellen zur Verfügung stehen. Eine bundesweit einmalige Tankstellendichte. Wohl wahr: In Visselhövede leben heißt vor Visselhövede flüchten. Niemand hält die Wahrheit der Stadt in dieser Dichte über längere Zeiträume aus. Die Flucht vor ihr wird mit Hektolitern an fossilen Brennstoffen bezahlt. Die Wahrheit, das ist ein verstepptes Gewerbegebiet an der Straße nach Fallingbostel. Eine desolate Zündholzfabrik, die vor vielen Jahren Arbeitsplätze bot. Erschreckende Leerstände in gewerblichen Innenstadtimmobilien.
Es gibt in der Stadt, klein wie sie ist, zwei Kerne: einen historischen. Und einen ahistorischen. Der historische besteht aus Kirche, Rathaus und Markt, wird vom Verkehr durchschnitten und ist als solcher nicht mehr erkennbar. Der ahistorische besteht aus der Goethestraße. Dies ist die Geschäftstraße des Ortes; ihr ehemaliges Backsteingesicht mit Fachwerkeinsprengseln ist derart von billigsten Marmor-imitaten, Giebelverblendern und den schrillen Farbattentaten der Geschäftsleute verwüstet, daß man unbedacht von der häßlichsten Straße Deutschlands reden möchte. Statt dessen ist dies lediglich das ungeschminkte Gesicht einer vom Leben gezeichneten Stadt, der das Geld zum Liften völlig fehlt. Nicht von ungefähr versammeln sich hier als Warenanbieter in hoher Verdichtung Woolworth, Ihr Platz, Minimal, Textildiscount und Ottoversand. Wer mäkelt, es fehle aber ein Lidl, braucht nur um die Ecke zu schauen, wo soeben einer errichtet wird. Auch auf Schlecker oder Aldi muß kein Visselhöveder verzichten.
Man könnte aus den vorstehenden Zeilen schließen, daß ein Leben in Visselhövede nur als Selbsterfahrung oder rein gar nicht möglich sei. Das stimmt nicht! Wo Leben ist, kämpft es, gebiert Kultur. Vielleicht gebiert Not mehr Kultur, als sich Überfluß je ausdenken könnte. Gleich gegenüber dem Bahnhof an der Ausfallstraße (wie berechtigt der Name „Ausfallstraße“hier ist!) nach Jeddingen hat sich jüngst in einem dubiosen Gebäude, welches einst das Bahnhofshotel, später ein Asylbewerberwohnheim war, eine Initiative ans Werk gemacht, „Kunst und Schlemmen“zu verbinden. „EigenArt“heißt es hier programmtisch: Glaskust, Keramik und Kaffeetrinken. Die Eisbecher heißen „Nana“(„wie die Nanas von Niki St. Phalle mit Erdbeer Sorbet, Creme Pfirsich, Creme Himbeer, Creme Birne, Sahne und Waldbeerensauce – 9,00 DM“), werden Rodins Skulpturen nachgebaut („Camille Claudel“) oder Chagalls Bildern nachempfunden. Abends gibt es z.B. Western & Country im Halbplayback-Verfahren.
Öffentliche Kunst kennt Visselhövede nicht. Bis auf eine Ausnahme: Eine kleine bronzene Figurengruppe – Junge und Mädchen berühren einander scheu – mit darunterliegendem Brünnlein ist an einem Nebeneingang des Rathauses versteckt. Es sollen nämlich einmal zwei Königskinder nicht zueinander gefunden haben, und zwar aufgrund eines bösen Wassergeistes. Dieser Wassergeist bewohnte die bei der Kirche sprudelnde Quelle der Vissel, die unserem Städtchen den Namen gab und schon in vorchristlicher Zeit Heiden zu heidnischem Tun verlockte. Gewiß könnte man Visselhövedes heilende oder desaströse Wirkung auf des Reisenden Psyche mit diesem magischen Ort erklären, von dem aus das Visselwasser direkt einer Kneipp-Wassertretstelle zueilt, die allerdings eigenartigerweise meist ohne Wasser ist.
Faßt man den Begriff „Kultur“etwas weiter, wartet Visselhövede sogar mit kulturellen Highlights auf wie, am 13. August, einem „Open Air Classic“mit Justus Frantz, der Mont Blanc Philharmonie der Nationen und Bernd Zivny mit dem Luftwaffenmusikkorps 4. Unter diesen Kulturbegriff fällt auch Frau Grünhagen, eine Dichterin, die sogar ihrem Ärger über liegengebliebenen Hochzeitsreis auf der Rathaustreppe in einem Leserbrief an die „Visselhöveder Nachrichten“in Reimen Luft macht („Am 15.7., die Uhrzeit kann ich mir sparen / mußte ich nach Visselhövede fahren./ (...) Die Rathaustreppe und Vorplatz, sonst hübsch und sauber anzusehen / heute konnte man kaum drüber gehen. / Ich konnte nur denken oh wei oh wei / was ist das hier für eine Schweinerei ...“). Das ungekrönte kulturelle Zentrum Visselhövedes indes ist das Eiscafé Venezia in der Goethestraße.
Reisender, kommst du nach Visselhövede, laß fahren alle Hoffnung und Prätention, sei wie du bist oder warst, vergiß die Krawatte, streif die Jogginghose über, laß den Bauch raushängen, lümmel dich in die Bestuhlung des Eiscafés Venezia. Bestelle das unappetitlich große Eis „Hausbecher“. Lache mit den Zonis am Nebentisch über: „Wer ist der größte Dom? – Das Kondom!“Sei Zoni! Werde leer. Definiere neue Ziele. Erkundige dich nach Hagen Wachtmann. (Größter Sohn der Stadt. Schon 1977 mit der Ponystute Saga Erster beim Duhner Wattrennen erfolgreich. Dann zu groß und schwer für den Kleinpferdesport. Auf große Pferde umgesattelt. Dieses Jahr auf Fuchswallach King Sheaven den Wanderehrenpreis des Ministerpräsidenten geholt.) Zieh die Nase hoch. Schmatze. Jubele, wenn dir ein Langholztransporter beinahe über die Füße fährt. Grüße alle tiefergelegten Audi, Golf GTI und auf nur einem Rad passierenden Mopedfahrer, die in einem fort die Goethestraße auf- und abfahren. Dann wechsele ins Gasthaus zur Post gegenüber. Hau dir Reh mit steifer Hubertussauce rein. Und schließlich falle beim Textildiscount ein und erstehe für 3,99 DM drei paar Baumwollsocken.
Reisender, kommst du nach Visselhövede: Laß dich auf Null fahren. Erhol dich im staatlich anerkannten Erholungsort. Erhol dich vom Ich. Mach Urlaub vom Über-Ich. Durchschreite das Tor. Trau dich – in die innere Heide.
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