Weniger Geld, aber dafür mehr Freiheit

Akademgorodok, eines der russischen Forschungszentren, ist seit dem Ende des Kommunismus auf sich selbst gestellt. Der Absturz blieb aus. Die Wissenschaftler halten der internationalen Konkurrenz stand  ■ Aus Akademgorodok Klaus-Helge Donath

Zwölf Uhr mittags. Im lichtdurchfluteten Saal des auf einer sanften Anhöhe gelegenen Instituts für Kernforschung (IKP) versammelt sich die Creme der sibirischen Physik. Seit nunmehr 35 Jahren tagein, tagaus das gleiche Ritual. Wer pünktlich kommt, erwischt noch einen Platz am runden Tisch. Gut sechs Meter mißt das schwarze Ungetüm im Durchmesser. Einmal wöchentlich stellt jede Forschungsrichtung ihre Ergebnisse vor. Die Physiker in Akademgorodok bei Nowosibirsk sind stolz auf diesen Brauch. „Der Tisch symbolisiert unsere offene und gleichberechtigte Arbeitsweise“, meint Professor Sidorow selbstbewußt. „Wir haben es immer so gehalten, egal wer im Kreml saß.“ Inzwischen stehen nicht mehr nur Fachfragen auf der Tagesordnung. Der Rubel bestimmt immer häufiger die Debatte.

Selten verstreicht ein Tag, an dem nicht Wissenschaftler gegen ihre miserable Lage protestierten. Manche müssen Monate auf ihre Gehälter warten. Ein besonders tragisches Ende nahm der Fall Wladimir Netschaij. Der Direktor des Nuklearlabors Tscheljabinsk-70 und Mitbegründer des sowjetischen Mittelstreckenraketenprogramms erschoß sich im vergangenen Herbst. Aufrütteln sollte seine Tat. Der desparate Hilfeschrei erreichte die ferne Kapitale nur noch als ein leises Wehklagen. Moskau entsandte nicht einmal einen Vertreter zur Beerdigung. Wochen danach wandten sich Netschaijs Kollegen erneut an den Kreml. Sie warfen den Verantwortlichen vor, „die Rolle und den Platz der Atomwaffen für Rußlands Sicherheit überhaupt nicht zu begreifen ... sowie den Erbauern und Erfindern mit skandalöser Nichtachtung zu begegnen“.

Das Schicksal der Physiker in Tscheljabinsk-70 ist kein Einzelfall. Mit dem Ende der Blockkonfrontation büßten sie ihre privilegierte Stellung ein. Dank im nachhinein wird ihnen nicht zuteil. Im Gegenteil, wer es nicht schafft, auf die Herausforderungen zu reagieren, bleibt sich selbst überlassen...

In Akademgorodok ist der Notstand indes nicht ausgebrochen. Beiläufig zeigt Sidorow auf eine samtblaue Vertragsmappe mit den goldenen Lettern „Samsung“. Der Abschluß mit dem südkoreanischen Konzern sei nun unter Dach und Fach. Jetzt stammt die Hälfte aller Aufträge aus dem Ausland. Allein China kaufte bisher vierzehn Teilchenbeschleuniger, die etwas billiger sind als Westtechnologie. „Der Preis ist nicht so entscheidend“, ulkt der Professor, „wichtig für China ist: nicht zu viele Knöpfe und einfache Bedienung.“

Die Tendenz nimmt zu, russische Forschungseinrichtungen wenden sich verstärkt dem asiatischen Markt zu. Die Universität in Nowosibirsk gründete eine Fakultät für Asienkunde, die den Andrang der Studenten gar nicht bewältigen kann.

Für die Kernphysik entscheiden sich auch heute noch genügend Nachwuchswissenschaftler. Ein Drittel der 2.800 Mitarbeiter des IKP sind jünger als 33 Jahre. Seit 1991 trennte sich das Institut von einem Fünftel der Angestellten. Natürlich gibt es Probleme, und Sidorow bemüht sich, die Dinge nicht allzu rosig darzustellen. Subventionen sind schließlich immer willkommen. Das IKP genoß früher schon größere Freiheiten, durfte selbständig wirtschaften und sogar mit dem Klassenfeind Handel treiben. Heute bewahrt es dagegen gewisse Vorzüge des Sozialismus. Die Einnahmen verwaltet der Runde Tisch, er entscheidet, wer was bekommt. Die kostspielige Grundlagenforschung fristet daher kein Schattendasein.

Die Gründung Akademgorodoks – der Stadt der Akademiker – 1957 war ein sowjetischer Kraftakt. Der Generalsekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow, hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Kapitalismus einzuholen, dann ihn zu überholen. Dazu brauchte er die Kräfte der Wissenschaft. Das geplante Manöver scheiterte, aber die Anstrengungen reichten, um den Gegner gehörig einzuschüchtern. Physiker Michail Lawrentjew machte sich auf die Suche nach einem Ort der Kontemplation. Dreißig Kilometer südlich der sibirischen Zentrale Nowosibirsk, im „goldenen Tal“ wurde er fündig.

1962 hatten sich bereits zwanzig Institute angesiedelt. Junge Wissenschaftler für die Denkfabrik zu gewinnen bereitete keine Mühe. Hervorragende Arbeitsbedingungen und unbegrenzte Forschungsmittel lockten. Vor allem aber komfortable Wohnungen und Geschäfte mit Luxusgütern, die sonst nur die Nomenklatura erhielt.

Wehmut überkommt Waleri Jermikow, den Chef der Managementabteilung der Akademie der Wissenschaften, sobald er vom Enthusiasmus der Gründerjahre schwärmt. „Wir waren ein buntgemischter Haufen aus der ganzen Sowjetunion. Die besten kamen zu uns.“ Überhaupt begegnet einem das Elitedenken auf Schritt und Tritt in dem 30.000-Seelen-Städtchen, das in die Jahre kommt. Wohnhäuser und Akademiebauten brauchten dringend neuen Putz. Wie hingewürfelt verstecken sie sich unter den Wipfeln des Waldes, obgleich hier dem Zufall nichts überlassen wurde. Ein Ort, der Ruhe und Entspannung atmet. Die Bewohner lieben ihre Stadt, Wohnungen sind heiß begehrt. Früher baute die Akademie sie aus eigenen Mitteln. Dazu reicht es nun nicht mehr, was manchen Wissenschaftler davon abhält, sich in Akademgorodok niederzulassen.

Mit seinen 60 Jahren fällt es dem Geologen Jermikow schwer, sich auf die neuen Bedingungen einzustellen. Ein wenig unter seiner Würde empfindet er es schon, Geld heranschaffen zu müssen. Wieviel einfacher war es doch, als Staat und Rüstungsindustrie für alles aufkamen... „Heute verbringen Professoren die meiste Zeit damit, Forschungsanträge zu formulieren“, meint er pikiert.

Eine grundlegende Reform des Wissenschaftssektors hat in Rußland nicht stattgefunden. Doch wird rund ein Fünftel der Forschungsmittel bereits über Ausschreibungen vergeben. Einen zusätzlichen, mageren Teil steuern ausländische Fonds wie die Soros Foundation bei. Der alte Verteilungsmodus bedachte alle in geichem Maße. Je mehr Mitarbeiter, desto großzügigere Zuwendungen erhielt ein Institut. Erfolg und Aktualität der Forschung spielten eine untergeordnete Rolle. Für die Statistik, die der Sowjetunion bestätigte, weltweit das Land mit dem höchsten Bildungsgrad zu sein, machte es sich immer gut.

Mathematikprofessor Wladimir Beresnjew gehört zu den Optimisten. In den Schwanengesang des staatlichen Wissenschaftschors stimmt der humorvolle stellvertretende Dekan nicht ein. Sein Institut brachte 1975 immerhin einen Nobelpreisträger in Wirtschaftsmathematik hervor, Leonid Kantorowitsch.

„Konkurrenzfähigkeit verloren?“ fragt er noch einmal nach. „Wer das von sich behauptet, ist in Wirklichkeit nie wettbewerbsfähig gewesen“, schießt es aus ihm heraus. Selbst ein sehr reiches Land könne es sich nicht erlauben, so zu arbeiten wie die russische Wissenschaft in der Vergangenheit. Das begrenzte Budget hat die hypertrophe Sowjetwissenschaft dem Prozeß der natürlichen Selektion überlassen. „Es hatte sogar Vorteile, wir haben nicht nur überlebt, sogar einiges erreicht in den schwierigeren Jahren“, triumphiert er. Von den 350 Mitarbeitern sind 100 Professoren und 150 Doktoren. Allein im Bereich der Grundlagenforschung zogen sie im letzten Jahr 50 russische Stipendien an Land und etwa ein Dutzend internationale in Kooperation mit Ausländern.

Der Brain-Drain, den die russische Intelligenz und patriotische Kräfte geradezu beschwörend an die Wand malen, fällt niedrig aus. Ganze zehn Mathematiker haben „Akadem“ in fünf Jahren für immer den Rücken gekehrt. Im Westen wäre das ein Zeichen mangelnder Mobilität. Das trifft auf das Kantorowitsch-Institut aber nicht zu, weil es rege Kontakte mit dem Ausland unterhält.

Vierzig Mathematiker arbeiten regelmäßig auch an Universitäten im Westen, andere bessern durch drei- bis sechsmonatige Aufenthalte im Jahr ihr Salär auf. Beresnjew bestärkt seine Leute darin noch. Jede Wissenschaft neigt zur Selbstreferentialität, aus ideologischen Gründen litt besonders die Sowjetelite an dieser Krankheit. In den Anfängen der UdSSR trieb das absonderliche Blüten, wenn Forscher gezwungen wurden, das Rad neu zu erfinden...

Das kommunistische System kollabierte 1991 und hinterließ eine Armee von einer Million diplomierten Wissenschaftlern. Mit Laboranten und Verwaltungsangestellten summierte sich das auf über drei Millionen Kostgänger. Die Produktivität im internationalen Vergleich war somit eher bescheiden, nur dank der wirklichen Koryphäen konnte sich die UdSSR im Spitzenfeld behaupten.

Der Ballast wird nun abgeworfen. Lassen sich zigtausend Ingenieure und Wissenschaftler der Automobilindustrie, denen es in vierzig Jahren nicht gelang, den Fiatnachbau „Lada“ in einen Pkw zu verwandeln, als hochqualifizierte Fachkräfte bezeichnen? An vielem trug selbstverständlich die innovationsfeindliche und träge Industrie schuld. Das entlastet die Wissenschaft, erhöht im nachhinein aber nicht ihre Wettbewerbsfähigkeit. Verlassen solche Ingenieure das Land, steigt die Hysterie krakeelender Patrioten. Dem intellektuellen Potential versetzt das keineswegs den Todesstoß.

Die Telefonleitung zum Zentrum für Virologie und Biotechnologie außerhalb der Stadt rauscht wie eine Verbindung in ein anderes Milchstraßensystem. „Vector“ nennt sich das Institut, nachdem das Verteidigungsministerium vor fünf Jahren die Finanzierung einstellte. Bis dahin wurden tödliche Viren und Bakterien hergestellt. Die Mitarbeiterzahl schrumpfte von 4.500 auf 2.500. Direktor Lew Sandachtschiew strahlt dennoch Zuversicht aus. Mit Pharmaherstellern aus Süd-Korea wurden Verträge abgeschlossen. Überdies hat sich der Staat nicht ganz seiner pekuniären Verpflichtungen entledigt. Die Erfahrungen „Vectors“ belegen eine typische Erscheinung der Übergangszeit: Forschungszentren, die allein von der Rüstungsindustrie unterhalten wurden, passen sich langsamer und schwerfälliger den neuen Verhältnissen an. „Wir haben weniger Geld, aber mehr Freiheit“, meint Chef Sandachtschiew. „Ich fühl' mich besser, weil nun eine akademische Atmosphäre herrscht, nicht mehr dieses Militärische.“

Mit Abstand den größten Erfolg verbucht das Boreskow-Institut, das sich mit Katalysatoren befaßt, Stoffen, die nicht im Endprodukt erscheinen, aber Geschwindigkeit und Ablauf einer chemischen Reaktion beeinflussen. Die zehn führenden Chemiekonzerne der Welt gehören zu den Auftraggebern. Der 40jährige Direktor Professor Valentin Parmon erlaubt es sich, zwei Drittel der offerierten Verträge abzulehnen, weil sie wirtschaftlich nicht lukrativ sind.

Lizenzvereinbarungen mit 70 Firmen weltweit in Höhe von mehreren Millionen US-Dollar sichern den 1.000 Angestellten überdurchschnittliche Löhne. Erfinder erhalten einen prozentualen Anteil. „Die Katalyse ist ein unbegrenzter Raum für intellektuelle Arbeit“, erzählt Vizedirektor Serge Kildjaschew. „Unser Erfolg: Wir machen unter einem Dach, wofür man im Westen fünf Institute braucht.“ Als sich 1992 abzeichnete, daß der Staat kein Geld mehr geben würde, erhöhten sie sogar die Bezüge ihrer Schlüsselkräfte. Die Rechnung ging auf, die erfahrenen Leute wanderten nicht ab.

Rußlands Wissenschaft durchläuft einen Selbstreinigungsprozeß. 1996 erschienen mehr wissenschaftliche Publikationen und Beiträge russischer Autoren in westlichen Fachzeitschriften als je zuvor. Auch die im Ausland erhaltenen Patente nahmen zu. Auf der Wissenschaftsmesse in Brüssel stellten die Russen unlängst nicht nur das größte Einzelkontingent an Neuerungen, sämtliche Beiträge wurden darüber hinaus von der internationalen Fachwelt ausgezeichnet. Der Hauptpreis ging sogar an eine künstliche Herzklappe aus russischer Produktion.

Professor Jermikow stellte mit Bedauern fest, immer weniger Wissenschaftler mieteten Land von der Akademie, um ihre eigenen Kartoffeln zu ernten. Offenkundig haben sie es nicht mehr nötig. Langsam geht es aufwärts. Lärm verursachen nicht selten Geisteswissenschaftler, die zuvor die propagandistische Linie der KPdSU in den Einzeldisziplinen paraphrasiert und wiedergekäut haben. Ihrer sind Legionen, und ihre Qualifikation ließ schon damals zu wünschen übrig.

Philosophieprofessor Zelischew in Akademgorodok kommt zu einem bemerkenswerten Urteil: „In den Naturwissenschaften sind wir Russen zu außerordentlicher und logischer Arbeit inmstande. In der Philosophie mögen Russen keine Professionalität.“ Mystik und okkulte Wissenschaften florieren statt dessen. Die Schule sei schuld, die anstelle von Bildung Spezialwissen vermittle.

„Wer als Wissenschaftler nicht überleben kann“, erklärte Mathematiker Beresnjew apodiktisch, „mit dem stimmt etwas nicht“.