Im Laufschritt über den Oderdeich

Der politische Erfolg des brandenburgischen Umweltministers Matthias Platzeck ist, daß ihn gerade jetzt die Politik deutlich weniger interessiert als die Flut  ■ Aus Frankfurt Jens Rübsam

Katastrophe. Was für ein Wort! In Polen standen 628.000 Hektar Land unter Wasser. Waren 1.350 Städte und Dörfer überflutet. In Polen sind 53 Menschen ums Leben gekommen. In Tschechien 46. Mensch, Alwin, und du sprichst noch immer von einer Katastrophe in Brandenburg! Matthias Platzeck lehnt sich zurück, lächelt gequält. Der Kellner bringt ein Schwarzbier. Dem Bart des Ministers entweicht ein sanftes „Dankeschön“. Seine großen, lustigen Augen hüpfen. Er nimmt einen Schluck und spült das Wort runter, das sein Parteikollege, Brandenburgs Innenminister Alwin Ziel (SPD), einmal mehr der Presse vorgeworfen hat. Platzeck ist müde. Es war ein langer Tag. Nein, von einer Katastrophe würde er nie sprechen.

Auch nicht angesichts der versunkenen Häuser, Ställe und Betriebshallen in der Ziltendorfer Niederung, in der Ernst-Thälmann-Siedlung, in Kunitzer Loosee, in Aurith. „Kein Mensch ist in Brandenburg ums Leben gekommen.“ Gut, das ist auch sein Verdienst. Und natürlich das der Bundeswehr, des Technischen Hilfswerks, des Bundesgrenzschutzes, der vielen Freiwilligen, die in den vergangenen Wochen mitgeholfen haben, Sandsäcke zu füllen, Deiche abzusichern, sich um die Evakuierten zu kümmern. An diesem Wochenende sei erstmals damit zu rechnen, daß von Alarmstufe vier, der höchsten, auf drei gegangen werden könne, sagt Platzeck ruhig. „Das ist aber immer noch die zweithöchste.“ Im Bart des 43jährigen verschwindet das Lächeln.

Der Troß aus Kamera, Licht und Ton nervt

Am Morgen dieses 18. Hochwassertages war Lothar Bisky da. Mit 17 Genossen der brandenburgischen PDS-Landtagsfraktion saß der Parteichef im Landesumweltamt in Frankfurt (Oder) und ließ sich von Platzeck die Lage erklären, wie sich ein Schüler im Geographieunterricht erklären läßt, wie Hochwasser entsteht. Platzeck sitzt Bisky gegenüber. Die Beine hat er übereinandergeschlagen, mit den Händen formt er das Oderbruch. Er schildert die Lage. Er berichtet von Reitwein. Man habe sich entschlossen, einen 3,2 Meter langen Notdeich zu bauen – für sechs Millionen Mark und gegen den Willen der Einwohner. Achtzehn Gehöfte stehen in dem Gebiet, das zum Polder werden würde. „Ich kann die Ängste der Leute verstehen“, sagt Platzeck. Aber jetzt sei nicht die Zeit für Streit.

„Die Kommunisten hätten das demokratischer geregelt“, hatte ihn ein alter Mann auf einer Protestversammlung angebrüllt. „Die Interessen von vielen stehen gegen die von einzelnen“, rechtfertigt sich Platzeck. Als Minister, sagt er, müsse er den Frust der Leute aushalten können. Es klingt ein wenig traurig. Oft ist Matthias Platzeck in den vergangenen Tagen beschimpft worden. Von den Ratzdorfern, als er ihnen mitteilte, das Dorf werde evakuiert. „Mach nich' so 'ne Welle!“ haben sie geschrieen. „Wir wohnen seit dreißig Jahren hier“, haben sie altklug argumentiert. Er entschied: Evakuieren. Es war richtig. Von den Leuten in der Ziltendorfer Niederung ist er angegangen worden. Er habe Deiche sprengen lassen, um Frankfurt vorm Hochwasser zu schützen. „Absurd“, sagt Platzeck. „Es gab keine Opfergaben.“ Punkt. Aus.

Aber: Wenn die erste Wut vorbei ist, kommen die Leute auf ihn zu. Lassen mit sich reden. Klopfen ihm auf die Schulter und an die Scheiben seines grünen Audis. Laden ihn ein zu Kaffee und Kuchen. Platzeck erzählt das nicht ohne Stolz in der Stimme.

Bisky hört zu und kriecht heraus aus seiner Lauerstellung. Legt sein griesgrämiges Gesicht ab und setzt zu einer Rede an: „Ich will unseren Respekt ausdrücken für das, was hier getan wurde.“ Platzeck muß schmunzeln, ein wenig verlegen. Ein Lob von der PDS? Das hatte er noch nicht. „Tut mir leid, ich muß zum Impfen.“ Ein Wink in die Runde. „Vielen Dank“, und er rennt aus dem Zimmer, läßt die Genossen allein.

Sonnyboy, Deichgraf, Everybody's Darling, wie auch immer er von den Medien bezeichnet wird, Matthias Platzeck interessiert es nicht wirklich. Ob er Ministerpräsident von Brandenburg werden wolle? Sich ein höheres Amt, etwa in Bonn, vorstellen könne? Für das Schattenkabinett des SPD-Kanzlerkandidaten zur Verfügung stehen würde? Fragen, immer wieder die gleichen Fragen. Er antwortet, ruhig und freundlich, meistens irgendwas.

Der tägliche Troß aus Kamera, Licht und Ton nervt. Kein Schritt ohne Begleitung. Und manchmal Szenen wie diese: Eine Frau, die weint; ein Kameramann, der draufhält. Bis sie ihm eine scheuert. „Richtig so“, hat sich Platzeck gedacht. Oder Geschichten wie diese: Medienleute, die Bestechungsgelder zahlen, sich als Feuerwehrhelfer verkleiden, um in gesperrte Gebiete reinzukommen. „Ich glaube, er hat sich eine Schutzwand aufgebaut“, sagt sein Fahrer Thomas Kropp: „Er nimmt vieles um sich herum gar nicht mehr wahr.“

Die Meute wartet, auch an diesem Morgen. Platzeck kommt zum Impfen. Er zieht das karierte Hemd aus, setzt sich auf den Stuhl, zieht den kleinen Bauch zusammen, ganz uneitel ist er nicht, legt die Arme in den Schoß, weil es die Fotografen so wünschen, läßt sich impfen von Stabsärztin Marion Uellner – und dabei ablichten. Geht in den Nebenraum, schlägt die Tür hinter sich zu, „darf ich mich wenigstens in Ruhe anziehen?“ Er weiß, er ist Opfer des Sommerlochs. Er weiß auch, daß dieses Sommerloch ihn berühmt gemacht hat, bundesweit.

„Anfangs“, erzählt sein Fahrer, „hatten wir ja echt das Problem, mit dem Auto überall ins Krisengebiet reinzukommen.“ Die Einsatzkräfte an den Absperrungen hätten das Gesicht mit den lustigen Augen, der kleinen runden Nase, dem Bart nicht gekannt. Jetzt hat Platzeck ein anderes Problem: „Er ist allzu bekannt.“ Sagt Thomas Kropp, der auch ein Problem hat. Mit dem kleinen grünen Audi, den er eigentlich mit Rapsdiesel tankt. Hier im östlichen Brandenburg gibt es nirgends Rapsdiesel.

Nach Bisky wartet an diesem Vormittag Angela Merkel, die Bundesumweltministerin, auf Matthias Platzeck. Braungebrannt und gutgelaunt will sie sich über die Lage informieren, am 18. Hochwassertag. Aus dem Hubschrauber sehen, was zu sehen ist. „Ah, der Herr Platzeck, grüße dich!“ ruft sie ihm entgegen. Platzeck kommt im Laufschritt, wie er alles im Laufschritt erledigt. Sie tuscheln, ziehen sich zurück. Später wird er sagen, war „okay“, daß die Ministerin da war, das Hochwasser sei schließlich eine nationale Aufgabe. Später wird er auch zugeben, daß er fast eingeschlafen wäre im Hubschrauber. Aber wie hätte das ausgesehen neben der Ministerin?

Platzeck schläft nicht im Hubschrauber, er träumt – mit offenen Augen. Schaut verliebt aus den kleinen Fenstern, das da unten ist sein Land. Er kennt mittlerweile jedes Haus. Jeden Garten. Jeden Zentimeter Deich. Er bemerkt jede Veränderung, auch aus 100 Meter Höhe. Er sei schon immer sehr brandenburgisch gewesen, aber noch mehr brandenburgisch geworden in den vergangenen Tagen. Er holt einen Kuli aus seiner Hemdtasche, ein roter Adler ist drauf. Eine nette Geschichte, meint Platzeck. „In der Regel verliere ich drei Kulis am Tag. Aber jedesmal, wenn dieser hier weg ist, gehe ich zurück und hole ihn. Sehr brandenburgisch eben.“ Die lustigen Augen hüpfen.

Im Wind des Hubschraubers lobt Merkel den Brandenburger Kollegen über den grünen Klee: „Will sagen, daß die Politik von Matthias Platzeck, dem Fluß Raum zurückzugeben, nur richtig sein kann. Natürlich danken wir dir, Matthias, für alles. Es wird alle Unterstützung für den Nationalpark Oderbruch geben.“ Dann hasten sie zum nächsten Termin. Mit dem polnischen Umweltminister den Aktionsplan Hochwasser besprechen. Ihn der Presse vorstellen. Fliegen weiter nach Hohenwutzen. Frau Merkel will sich auch hier informieren. Matthias Platzeck informiert. Und erzählt jene Geschichte, die er dieser Tage gern und jedem erzählt.

Ein Tisch mit Kaffee und Kuchen auf dem Deich

Wie in Hohenwutzen, vier Tage nachdem der Deich gerettet und die Überflutung des Oderbruchs aufgehalten war, auf dem Deich ein großer Tisch stand, hübsch gedeckt mit Tassen und Tellern, kleinen Gabeln, Kaffee und Kuchen. Wie eine ältere Frau ihn beiseite nahm, grinste und flüsterte: „Den haben wir gebacken“, wir, die älteren Frauen von Hohenwutzen, weil doch die Jungs von der Bundeswehr mal richtigen Kuchen zu essen bekommen sollten, richtigen, mit richtiger Butter drin, nicht solchen mit Margarine, wie es die jungschen Frauen heute machen. Platzeck lacht wie ein Junge, streicht seinen Seitenscheitel zurecht. Und erzählt noch, daß sein Büroleiter, der Herbert, hinterher meinte, solch einen fettriefenden Bienenstich habe er noch nie gegessen. „Total süß, solche Szenen“, meint Fahrer Thomas Kropp. Platzecks Augen hüpfen wieder.

Frau Merkel verabschiedet sich. Polittourismus ist wichtig, sagt Deichführer Platzeck. So richtig glaubt man es ihm nicht. Kohl war zweimal da, Herzog einmal, Lafontaine einmal. Platzeck hat seine Parteizentrale in Bonn gebeten, schickt jetzt nicht noch mehr Leute. Es gibt Wichtigeres zu tun. Im Herbst, hat er ausrichten lassen, könnten sie kommen. Wenn es gilt, sich um die Folgen des „Naturereignisses“ zu kümmern.

Am späten Nachmittag dieses 18. Hochwassertages wartet Alwin Ziel: die tägliche Pressekonferenz zur Lage. Vier Minuten kommt Matthias Platzeck zu spät, die rote Mappe mit dem ungelenken Schriftzug „Hochwasser“ unter dem Arm. Alwin Ziel spricht von Katastrophe. Matthias Platzeck sagt nichts. Mensch, Alwin, denkt er, was für ein Wort!