„Verarscht und allein gelassen“

■ Gestoppte Rechtschreibreform verwirrt Lehrer in Niedersachsen. Die Etats der Schulen sind verbraucht. Sind die neuen Fibeln nutzlos?

Das Verwaltungsgericht Hannnover stoppte gestern die Einführung der Rechtschreibreform in Niedersachsens Schulen. Dort beginnt in drei Wochen das neue Schuljahr. Die Lehrer haben sich schon auf die Reform eingestellt. In Zeven bei Bremen übernimmt Ingrid Ahrens eine erste Klasse. Die Lehrerin an der Grundschule Scheesselerstraße ärgert sich.

taz: Beherschen Sie schon die neue Rechtschreibung?

Ingrid Ahrens: Weite Teile. Alles, was für meine Schüler bis zur vierten Klasse relevant ist. Kommaregeln etwa brauchen wir in der Grundschule noch nicht. Ich mußte mich mit schon mit den Neuerungen beschäftigen, aber die meisten Änderungen sind ja durchaus logisch. Jetzt bin ich auf die neuen Regeln eingestellt.

War die ganze Arbeit umsonst?

Ich hoffe nicht, da wäre ich aber empört! Wir haben vor den Ferien stundenlang kalkuliert, wie wir mit unserem neuen Etat hinkommen. Neue Bücher mußten studiert, ausgewählt und bestellt werden. Wir haben ja den ganzen alten Kram aussortiert. Das ist eine Katastrophe, die wir gar nicht mehr rückgängig machen können. Der Jahresetat unserer kleinen Grundschule ist definitiv weg. Sogar neue Mathe-Bücher haben wir bestellt! Ich selbst kaufte fünf neue Duden für über 100 Mark, jeder Kollege hat die neue Ausgabe schon auf seinem Schreibtisch.

Werden Sie im neuen Schuljahr alte oder neue Rechtschreibung lehren?

Das kommt drauf an. Vielleicht legt das Land Niedersachsen ja Revision ein. Ich werde mich natürlich an die Vorgaben des Kultusministers halten. Die sollte es aber bald geben! Hoffentlich ist bis zum Ende der Ferien ein klares Wort gesprochen. Glücklicherweise ist die erste neue Regelung das „ß“. Das nehmen wir erst um Ostern herum durch. Spätestens bis dahin muß klares Recht gesprochen sein.

Vielleicht schreiben zu Pfingsten dann einige Kinder „Kuss“ und deren Freunde aus der Parallelklasse „Kuß“.

Bei uns wird so etwas nicht passieren. Unser Kollegium wird sicher einheitlich unterrichten.

Vielleicht wird am 28. August der Unterricht mit der alten Rechtschreibreform begonnen. Müssen die Kinder dann mitten im Schuljahr noch umlernen?

Das wäre der totale pädagogische Irrsinn. Aber ich bin mittlerweile auf alles gefaßt.

Was meint die Lehrerin Ahrens zum Reformhickhack von Politik und Justiz?

Allein aus pragmatischen Gründen muß jetzt endlich ein eindeutiges Gesetz kommen. Hier kann doch kein rechtsfreier Raum sein. Wir Lehrer fühlen uns verarscht und allein gelassen. Wir haben wirklich dringendere Sorgen an unserer Schule als eine Rechtschreibreform. Die zunehmende Auflösung von Familie, Wahrnehmungsstörungen bei vielen Kindern, immer mehr Verhaltensauffälligkeiten bei einigen Schülern – das sind unsere wahren Probleme. Interview: Robin Alexander