: Eine halbe Milliarde Bücher
■ Enid Blyton, erfolgreichste Autorin aller Zeiten, wäre heute 100 geworden. Sie produzierte beinahe jede Woche ein Buch
Und wenn sie nicht 1968 gestorben wär, dann lebte sie noch heute. Enid Blyton, erfolgreichste Autorin aller Zeiten, schrieb rund 700 Titel, vor allem Kinderbücher, wurde in über 30 Sprachen übersetzt und konnte auf eine Gesamtauflage von schätzungsweise einer halben Milliarde Bücher verweisen. Ein Waldstück, ungefähr so groß wie ein halber Kontinent, muß der im ländlichen England aufgewachsenen Naturfreundin und passionierten Pflanzenliebhaberin zum Opfer gefallen, sprich: für sie abgeholzt worden sein.
Enid Blyton, geboren am 11. August 1897 in Südlondon, wäre heute 100 Jahre alt geworden. Jedes Kind kennt ihren Namen, doch für die gängigen Nachschlagewerke ist sie eine Persona non grata. Nichts über sie im Munzinger Archiv, nichts in der Britannica, nichts in Meyers Enzyklopädischem Lexikon, nichts im Guide to English Literature, nichts in Kindlers Neuem Literaturlexikon. Verschwörung des Patriarchats! Claudia Nolte, übernehmen Sie!
Zugegeben, der Fall Blyton ist ziemlich kompliziert. Man muß sie gegen die blöden Kriterien der Lexikalier verteidigen, obwohl die Geschichten um „Hanni und Nanni“ ja nun wirklich ganz schön blöde sind, obwohl wir sie alle verschlungen haben und dagegen ja nun wirklich nichts zu sagen ist... Blytons Erfolgsgeheimnis bestand darin, ein bemerkenswert schlichtes und kindliches Gemüt mit bemerkenswert genialischen Eigenschaften zu besitzen. „Mit acht Jahren konnte ich eine Seite eines Buches lesen, die Augen schließen und den Text fast wörtlich wiederholen“, erinnerte sie sich in ihrer „Geschichte meines Lebens“.
Schon damals wollte sie partout Schriftstellerin werden, auch wenn ihr Vater unbedingt eine Pianistin aus ihr formen wollte. Während der Pausen zwischen den musikalischen Übungen schrieb sie bis die Feder glühte, in der Hoffnung, daß es irgendwo gedruckt werde und sie dann endlich nicht mehr länger am Klavier schmoren müßte. Die spätere Massenproduktion lief damals schon an, mindestens fünfhundert Gedichte und Geschichten entstanden. Doch was für eine Frustration: „Tag für Tag kamen Manuskripte zurück und rutschten mit einem dumpfen Aufschlag, den ich nur zu gut im Ohr hatte, durch den Briefschlitz auf den Boden.“
Aber bei Enid Blyton kriegt jede traurige Geschichte ihr Happy- End. Auch ihre eigene. Sie beschloß, Erzieherin zu werden: „Die Ausbildung würde mir genug Zeit zum Schreiben lassen, und ich könnte meine Geschichten, Gedichte und Spiele, die mir einfielen, gleich an den Kindern ausprobieren.“ Ihr erstes Buch wurde 1922 veröffentlicht. Sie heiratete, gebar zwei Töchter, wurde Kinderbuchlektorin, ließ sich scheiden.
Vielleicht war es ihre zweite Ehe mit einem Chirurgen, vielleicht auch ihr Umzug in ihr von Rotkehlchen, Cockerspaniels, Siamkatzen, Dohlen und Foxterriers wimmelndes Haus „Green Hedges“, jedenfalls lief der Schreibautomat von nun an auf Höchstleistung. Jede Woche, spätestens alle zwei Wochen entstand auf ihrer laubumkränzten Terrasse ein neues Buch. „Es ist, als hätte ich ein kleines Kino im Kopf. Ich sehe den Film, schreibe ihn mit und weiß dabei selbst nicht, wie er zu Ende geht. Auf diese Weise bin ich in der Lage, ein Buch zu schreiben und es gleichzeitig voll Überraschung zum erstenmal zu lesen... Ich könnte leicht ein Buch ohne Unterbrechung fertig schreiben, so schnell dringen die Einfälle auf mich ein.“ Wer weiß, vielleicht hätte die Erde nicht nur geschätzte 100.000 Tonnen, sondern die doppelte Menge Blyton-Bücher zu tragen gehabt, wenn Enid Blyton nicht nebenher noch als ordentliche Mutti für Mann und Kinder zu sorgen gehabt hätte.
So aber waren es „nur“ 19 Folgen Internatsgeschichten um „Hanni und Nanni“, die Generationen von Mädchen den Kopf verdrehten und sie darum winseln ließ, ebenfalls in solch einem Schulknast eingesperrt zu werden. Die gleiche toxische Wirkung hatten die 18 Bände „Dolly“, in denen die Internatsschülerin Dolly aufwächst, schließlich ihren Märchenprinzen heiratet und als Erzieherin glücklich auf ihr Internat zurückkehrt. Im Grunde war das, mit viel Phantasie angereichert, Enid Blytons eigene, immer wieder neu recyclete Lebensgeschichte.
Auch das Grundrezept für ihre Abenteuergeschichten – 8 Bände „Abenteuer“, 15 „Geheimnis“- Folgen, 21 Bücher mit den „Fünf Freunden“, 15mal „Tina und Tini“ – blieb das gleiche. Man nehme eine Portion Kinder, gewähre ihnen die Hauptrollen und lasse sie ein geheimnisvolles Geheimnis oder ein abenteuerliches Abenteuer erleben. Dazu gebe man einige gesottene Bösewichter, eine Handvoll Schatzinsel, einige Krümel Räuberhöhle, jede Menge verletzte Hunde oder niedliche Katzenbabies und einen kräftigen Schuß Moralin.
Schmeckt nicht? Kinder werden süchtig danach. Laßt sie doch. Blyton ist allemal besser als „Badman“ oder „Billy the Power Ranger“. Ute Scheub
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