Fräulein Niemands Gespür für die Hölle

Eine sonderbare Mischung aus Naivität und Altklugheit: Tomek Tryzna „Fräulein Niemand“ erzählt von lesbischen Erweckungen, ist aber als eine mittelalterliche Moritat gestrickt, die sich entsprechend gut verfilmen ließ  ■ Von Kerstin Hensel

Literatur über Fräuleins scheint im Aufwind; und weil die Romane so schön nach Gefühlen, Dramatik, Psychologie und Jungmädchenträumen klingen, werden sie auch schnell verfilmt. Es scheint so, als hätte Tomek Tryzna seinen Roman über das Fräulein Niemand, der jetzt auf Deutsch vorliegt, direkt für Andrzej Wajda geschrieben, der ihn bereits 1996 verfilmte.

Die Geschichte spielt in den letzten Jahren der Volksrepublik Polen. Hauptheldin Marysia (dicke herzkranke Mutter, Vater Bergmann und Säufer, vier Geschwister) wechselt aufgrund eines Umzugs der Familie vom Dorf in eine neue Kleinstadtschule. Dort wird zunächst Kasia Bogdánska ihre Freundin. Das Arzttöchterchen ist, ganz anders als die anhängliche, brave Marysia, ein ausgeflipptes, renitentes und intelligentes Persönchen. Sie komponiert auf elektronischen Instrumenten, die sie von ihrem Vater aus dem Ausland hat, und spielt hysterisch auf der Tastatur ihrer Launen. In ihrer Liebe zu dem unbescholtenen Mädchen liegt etwas Teuflisches, und bald ahnt der Leser: Marysia soll ihre Seele der Freundin verkaufen. Kasia verspricht Marysia „die Errettung vor dem Königreich der Armen, dem Himmel der Unschuldigen, den direkten Weg in die Hölle“. Letzteres gelingt ihr insofern, als daß aus Liebe Abhängigkeit wird und Marysia ihren Gott lästert, indem sie lügt, alte Leute beleidigt oder ins Taufbecken spuckt.

Eines Tages trennt sich Kasia von der seelisch bereits ausgebluteten Freundin, und Marysia fällt einer zweiten Teufelin zum Opfer: Ewa Bogdaj. Die Namen Bogdanska und Bogdaj sind eine Anspielung an Gott (Bog) und Geben (daj), also an Macht und Besitz. Die schöne Ewa macht Highlife, fährt mit einer Yamaha, kennt statt Zloty nur noch Dollar und kascht das verunsicherte Mädchen mit schicken Kleidern und der Einführung ins sündhafte Leben. Marysia hat durch die Beziehung zu Kasia selbst schon etwas von einem Ungeheuer angenommen, aber im Vergleich zu Ewa bleibt sie ein harmloses Ding. Ewa ist ein Biest besonderer Güte. Während Kasia vom Berühmtheits- und Herrscherwahn befallen war und der frommen Freundin weismachen wollte, auch sie sei Gott, ist Ewa das Konsumverführungsmonster.

Die Mädchenfreundschaft gerät zu einer zwanghaften lesbischen Beziehung. Durch Ewa wird Marysia von ihrer im Elend dümpelnden Familie getrennt, bis Kasia wieder auftaucht, sich an Ewa heranschmeißt und, im Komplott, die arme Marysia wissen läßt, daß sie nichts als billiger Durchschnitt, nichts als ein Fräulein Niemand ist. Marysia, verhöhnt und verraten, springt vom Balkon, mit der letzten Hoffnung auf ihren Schutzengel.

Geschrieben ist der Roman in der ersten Person, im Präsens und aus der Sicht einer Fünfzehnjährigen. Das ist problematisch, weil die Perspektive dadurch zwangsläufig beschränkt ist. Eine sonderbare Mischung aus Naivität und Altklugheit. Manchmal spricht Marysia wie eine Zehnjährige, manchmal so, als hätte sie den gesamten Freud und Nietzsche gelesen. Hinter der vereinfachten Weltanschauung des pubertierenden Mädchens steckt die Absicht des Autors, den erwachsenen Leser mit Eigenerkenntnis zu verunsichern: Man war ja nicht anders gewesen.

Darüber hinaus muß man sich daran gewöhnen, auf 340 Seiten einem Mädchen zu folgen, das sich fortwährend mit ihren Freundinnen küßt und streichelt, sich Mienchen, Schwesterchen und Liebchen nennen läßt, an Märchenprinzen und Gespenster glaubt und mit der heutigen Welt nichts zu tun zu haben scheint. Die ganze Handlung erinnert, trotz Fernseher, Motorräder und Synthesizer, an eine mittelalterliche Moritat. Es geht geheimnisvoll einher, höllische Feuer züngeln in den von Dämonen besetzten Träumen, und von all den Sünden bebt die Erde.

Der erste Teil des Buches ist gehobene Trivialliteratur, trotz der Einwebung von „weltliterarischen“ Elementen wie Märchen, Bibelstoff und antiker Tragödie. Der zweite Teil ist ungleich dichter und spannender. Die Geschichte wird aus ihrer oft verquaste Symbolik gerückt. Das Gefährliche der Mädchen-Macht-Spiele verdeutlicht sich an einigen Stellen zum großen Machtspiel des Kapitalismus mit seinem heimzuholenden östlichen Schäfchen, ohne penetrant belehrend zu sein. Ich kenne keine Literatur, die über die heutigen Zwänge der totalen Normierung des „modernen“ Menschen und dessen abgrundtiefe Frustration über seine verlorene oder nie gehabte Einmaligkeit so erschreckend genau geschrieben ist. Das Triviale verliert sich da zugunsten der historisch-gesellschaftlichen Besorgnis des Autors.

Tomek Tryzna: „Fräulein Niemand“. Roman. Aus dem Polnischen von Agniezka Grzybkowska. Luchterhand Verlag, München 1997, 341 Seiten, 39,80 DM