■ Tour d'Europe: Selbstheilungskräfte
In den frühen neunziger Jahren machte sich die Justiz in nahezu allen großen Demokratien daran, den Augiasstall von Korruption und Filz auszumisten, der in einem halben Jahrhundert Nachkriegszeit die meisten politischen Systeme Europas hatte verkommen lassen. Am spektakulärsten geschah dies in Italien, wo mutige Staatsanwälte nahezu die gesamte politische Nomenklatura aushebelten und auch den schmierenden Managern Verfahren anhängen konnten. Aber auch in Japan knallte es, gleich 130 Abgeordnete und der Regierungschef standen bei Großunternehmern auf der Schmiergeldliste. In den USA eröffneten Untersuchungsrichter sogar Verfahren gegen Präsident Clinton wegen „Unregelmäßigkeiten“ in seiner Zeit als Gouverneur von Arkansas. In Deutschland fanden Staatsanwälte Beweise über flächendeckenden Schmiergeldzwang in Behörden und bei Auftragsvergaben sowohl in der öffentlichen wie der privaten Wirtschaft. In Frankreich gerieten die Minister der späten Mitterrand- Ära und ihre konservativen Gegenspieler ebenso ins Fadenkreuz der Ermittler wie in Spanien die mehr als ein Jahrzehnt herrschende Sippe des damaligen sozialistischen Premiers Felipe González und in Griechenland der Clan des Regierungschefs Papandreou. In England fanden Zeitungen heraus, wie üppig die regierenden Tories für lukrative Auftragsvergaben geschmiert wurden.
Wie gelähmt, so schien es, ließen die bisherigen Machtinhaber die Unwetter über sich ergehen, unfähig zu reagieren. Selbst die sonst in solchen Fällen schnell zur Hilfe eilenden Geheimdienste sahen sich außerstande, die Justiz noch zu bremsen.
Spätestens Mitte der neunziger Jahre begann die Welle der Enthüllungen jedoch abzuflachen. Zwar werden in vielen Ländern noch spektakuläre Prozesse abgewickelt, wie etwa der gegen Italiens siebenmaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti und seinen Kollegen Bettino Craxi. Oder wie der gegen den französischen Unternehmer Bernard Tapie. Doch weder die Presse noch die Öffentlichkeit zeigen noch großes Interesse an den Verfahren.
War also alles umsonst? Sicher ist, daß die Ausgehebelten zu einem ansehnlichen Teil wieder Boden gutmachen, notfalls über Strohmänner wieder in den politischen und wirtschaftlichen Kreislauf eindringen. Ist die große Hoffnung auf die „Selbstheilungskräfte der Demokratie“ vergebens gewesen? Oder haben die Sündenbockverfahren, die noch abgewickelt werden, zumindest einen „zähmenden“ Effekt, so daß sich Beamte, Politiker und Manager künftig doch etwas mehr zurückhalten?
Immerhin, einige Länder, darunter die Bundesrepublik, haben die Straftatbestände hinsichtlich Korruption deutlich schärfer gefaßt als vordem, die Strafandrohungen differenziert. Andere, wie etwa Frankreich, garantieren ihrer Justiz mehr Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit als bisher.
Ob das alles die Schmiergeldpraktiken eindämmen kann, ist noch lange nicht entschieden. Gewiß ist aber schon aufgrund der wenigen aktuellen Enthüllungen, daß sich die Geber und Empfänger schon längst auf die Suche nach raffinierteren Methoden gemacht haben. Und in manchen Ländern wie etwa Italien versuchen auch die neu hochgekommenen Politiker mittlerweile die Justiz so an die Leine zu legen, daß der die Lust zum Ausmisten für alle Zeiten vergeht.W. R.
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