■ Vor 50 Jahren wurde Indien unabhängig. Der Subkontinent gehört zu den größten Kulturzentren der Welt, aber ethnische und religiöse Konflikte kann er nicht lösen
: Tribals und echte Raubkatzen

„India! The Golden Jubilee“ heißt die Themennummer der tonangebenden englischsprachigen Vierteljahreszeitschrift Granta, die der vor genau 50 Jahren unabhängig gewordenen Kolonie gewidmet ist. Obwohl vielen Lesern Namen wie Rabindranath Tagore und Salman Rushdie geläufig sind, sind sich nur wenige der Tatsache bewußt, daß das ehemalige Britisch- Indien (dazu zählen Indien, Pakistan, Bangladesch und Sri Lanka) zu den großen englischsprachigen Kulturzentren der Welt gehört. Die vorliegende Ausgabe von Granta präsentiert einen aktuellen Querschnitt aus Essays, literarischen Porträts und Buchfragmenten, die überzeugend darlegen, daß die anglo-indische Literatur der englischen und amerikanischen Produktion in jeder Hinsicht ebenbürtig ist.

Inhalt und Ton stehen gleich von Beginn des ersten Beitrags an in starkem Kontrast zum jubilierenden Titel: „Die politische Teilung Indiens verursachte eine der großen Erschütterungen der Geschichte. Weder davor noch danach haben in so kurzer Zeit so viele Menschen eine andere Heimat in einem neuen Land suchen müssen.“ Die Verlegerin und Autorin Urvashi Butalia präsentiert in ihrem Beitrag „Blood“ deshalb erst einmal die schlichten Fakten: Innerhalb von wenigen Monaten flüchteten 12 Millionen Menschen von Indien nach Pakistan oder in die andere Richtung. Zwischen 500.000 und 1.000.000 (genauere Zahlen gibt es nicht) kamen bei religiösen, ethnischen und kastenbedingten Massakern ums Leben. Hindus, Muslime und Sikhs entführten 75.000 Frauen der jeweils anderen Bevölkerungsgruppen; Millionen von Familien wurden zerrissen. Vor diesem Hintergrund wird heute weder in Indien noch in Pakistan die richtige Feststimmung aufkommen. Wenn man fragt, welche Erinnerungen an die neugewonnene Unabhängigheit noch lebendig sind, dann geht es in beinahe allen Antworten nicht um das Glück der Freiheit, sondern um das Elend der Teilung. Eine Wäscherin, Analphabetin, Alter unbekannt, erzählt: „Die armen Muslime sind nie zurückgekommen. Und eines Tages gab uns jemand Fahnen, und wir haben sie geschwenkt.“

Die Inderin Urvashi Butalia, deren Hindu-Familie aus dem pakistanischen Lahore stammt, beschreibt ihre persönliche Konfrontation mit der Vergangenheit. Vor zehn Jahren hatte sie die seltene Gelegenheit, die Stadt ihrer Vorfahren zu besuchen. Sie fand einen Onkel, der dort als einziges Mitglied ihrer Familie zurückgeblieben war.

Doch nach der Freude über die wiedergefundene Familie wurde schnell der unüberbrückbare Graben deutlich: Ihr Onkel war zum Islam übergetreten, aber kaum jemand aus seiner Umgebung traute allerdings der Bekehrung. Durch den erneuten Kontakt zu seiner indischen Familie drohte er sich sogar von der eigenen Frau und ihren gemeinsamen Kindern zu entfremden. So mußte er sich nach vierzig Jahren, zum zweitenmal und wohl definitiv, von seiner indischen Familie trennen.

Auch die Entwicklung einiger der aktuellen Konflikte und ihrer Protagonisten, Muslim-Rebellen in Kashmir und Hindu-Extremisten in Bombay, werden in zwei weiteren Beiträgen nachgezeichnet. Die politischen Hintermänner werden benannt, Kampagnen und Ziele erklärt. (Hier sollte man sich vor einem Pauschalurteil hüten: bei knapp einer Milliarde Einwohner, etwa achtzig Sprachen, fünf Weltreligionen und unzähligen Kulten wäre es ein Wunder, wenn keine blutigen Konflikte entstünden. Es spricht für die relative Toleranz und Friedensbereitschaft der indischen Gesellschaft, daß in 50 Jahren kein Konflikt entscheidend eskaliert ist.)

Der amerikanische Autor Edward Hoagland folgt in seinem Beitrag im südindischen Dschungel zusammen mit „Tribals“ (in Indien gibt es etwa 80 Millionen „Stammesangehörige“) der Fährte von Tigern und Leoparden – mit friedlichen Absichten. Leider sind die Absichten der Raubkatzen den Tribals gegenüber weniger friedlich, da sich die zwei- und die vierbeinigen Ureinwohner immer kleinere Gebiete teilen müssen.

Mark Tully – Kolonialkind, danach für die BBC seit 40 Jahren in Indien – schreibt Autobiographisches; ebenso der 99jährige Nirad Chaudhuri, dessen „Biography of an Unknown Indian“ vor 50 Jahren einer der ersten Welterfolge der anglo-indischen Literatur wurde. Die Lebendigkeit und der transnationale Charakter der indischen Belletristik kommen auch in Tagebuchaufzeichnungen von V. S. Naipaul, einem noch nicht publizierten Romanfragment des großen Volksautors R. K. Narayan, und einem Gedicht von Michael Ondaatje zur Geltung.

Am Schluß dieses Indien-Kaleidoskops steht eine großartige Entdeckung: Lange Passagen aus Arundhati Roys Romandebüt „Der Gott der kleinen Dinge“ belegen, daß sich hier ein neues literarisches Talent vorstellt. Dieses Meisterwerk enthält alles, was ein Buch braucht, um in die Literaturgeschichte einzugehen: Es ist eine historische Momentaufnahme, die den Emanzipationskampf der Frauen und der Unberührbaren in seiner entscheidenden Phase beschreibt. Es ist ein perfekt konstruiertes, tragisches Familienepos. Es vermittelt scharf analysierte Einsichten in das kulturelle Mosaik Keralas, den Heimatstaat der Autorin. Und schließlich ist ihre bilderreiche Sprache von einer ungewöhnlichen und doch ausgereiften Poesie.

Gita Mehta teilt mit Arundhati Roy eine virtuose Beherrschung der englischen Sprache und ein starkes Engagement für Bürgerrechte. Beide haben auch einen ähnlichen professionellen Hintergrund in der größten Filmfabrik der Welt (Bombay) – Arundhati Roy als Drehbuchautorin, Gita Mehta als Dokumentarfilmerin. Letztere hat sich als eloquente Kritikerin des Clans von Nehru und seiner Tochter Indira Gandhi profiliert, denen sie vorwirft, sie betrachten den indischen Staat als ihr persönliches Reich. Das kann sie bezeugen: ihr Vater, ein Held des indischen und indonesischen Befreiungskampfes, war lange Jahre Ministerpräsident des Bundes Orissa, bis er unter Indira Gandhi ziemlich willkürlich eingesperrt und politisch kaltgestellt wurde.

Gita Mehtas neuester Essayband „Und immer wieder neue Himmel finden“, ist eine Begegnung mit der indischen Gegenwartskultur, bei der sie viele, scheinbar lose zusammenhängende Themen auf historischer, sozialer und moralischer Ebene seziert und oft auch überzeugende Lösungen präsentiert. Ihr Essay über Selbsthilfebanken von Frauen, die sich aus Zwangsarbeit loskaufen, besticht durch die Klarheit, mit der sie Auswege aus der sozialen Misere Indiens ausweist. Und während sie in ihrem ersten Essayband „Karma Cola“ noch die billige Vermarktung der indischen Kultur gegeißelt hatte, sieht Gita Mehta jetzt in den kitschigen Hindu-Götterepen, die als Fernsehserien Hunderte Millionen von Zuschauern bannen, einen Beweis, wie zeitgemäß und widerstandsfähig die indische Kultur ist. Man kann ihr da nur beipflichten: Tele- Papst Wojtyla würde vor Neid erblassen, wenn er wüßte, daß Ram, Krishna & Co. es lässig gegen „Dallas“ und „Denver-Clan“ aufnehmen können.

Es sagt viel über die Bedeutung und internationale Akzeptanz der anglo-indischen Literatur, daß nicht nur Gita Mehta, die sich mit ihrer gefürchteten Scharfzüngigkeit schon einen großen Namen gemacht hat, sondern auch die bisher außerhalb Indiens gänzlich unbekannte Arundhati Roy scheinbar mühelos in die internationalen Bestsellerlisten gelangt. „Der Gott der kleinen Dinge“ erscheint fast zeitgleich in achtzehn Ländern, ab heute auch in deutscher Übersetzung. Andrea Goldberg

„Granta“, Nr. 57: „India! The Golden Jubilee“. Penguin Books, 288 S., 32 DM

Arundhati Roy: „Der Gott der kleinen Dinge“. Roman, Deutsch von Anette Grube. Blessing Verlag, München 1997, 380 S., 42,90 DM

Gita Mehta: „Und immer wieder neue Himmel finden. Betrachtungen einer Inderin über ihr Land“. Deutsch von Ursel Schäfer. Blessing Verlag, München, 222 S., 34,80 DM