Das banale Ende einer Empörung

Vor genau einem Jahr wurde in Belgien der Kindervergewaltiger Marc Dutroux verhaftet. Justiz und Staat gerieten massiv unter Druck – aber aus der Volksbewegung ist die Luft raus  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Irgendwann im Frühjahr wurden die Nachrichten aus Jumet immer kürzer. Als die Staatsanwaltschaft schließlich aufhörte, dort in einem aufgelassenen Bergwerk nach Kinderleichen graben zu lassen, haben die meisten Belgier das gar nicht mehr mitbekommen.

Ein Jahr nach der Festnahme des Kindervergewaltigers und Pornoherstellers Marc Dutroux, der mindestens sechs Mädchen entführt, mißbraucht und vier davon zu Tode gequält hat, ist das kleine Land längst zur Tagesordnung zurückgekehrt. Die Mehrheit der Bevölkerung glaubt nicht mehr an die vollständige Aufklärung der Hintergründe.

Die versprochenen politischen Konsequenzen werden derzeit zerredet. Noch im Oktober waren 300.000 Menschen in einem „weißen Marsch“ auf die Straße gegangen, um ihr Entsetzen über die Nachlässigkeit von Polizei und Justiz auszudrücken. Zu erdrückend waren die Beweise, daß die Schlamperei der Behörden das Drama erst ermöglich hatte, zu deutlich auch der Verdacht, daß hohe Beamte und Politiker jahrelang ihre Hand über Dutroux gehalten hatten.

Schon 1989 war Marc Dutroux wegen Vergewaltigung von Kindern zu dreizehn Jahren Haft verurteilt, nach drei Jahren aber bereits wieder freigelassen worden. Der damalige Justizminister Melchior Wathelet persönlich verfügte die Umwandlung in eine Bewährungsstrafe.

Als im Sommer 1995 die ersten beiden Mädchen verschwanden, bekam die Gendarmerie Hinweise, daß Dutroux in einem seiner zahlreichen Häuser Kellergefängnisse für Kinder baute und im einschlägigen Milieu Geld für die Entführung von Mädchen bot. Doch die Information versickerte im Konkurrenzstreit der Gendarmerie mit der Gerichtspolizei, die für die Nachforschungen verantwortlich war. Ein Jahr lang konnte Dutroux die beiden Mädchen unbehelligt in seinem Keller gefangenhalten.

Gemeinsam mit seiner Frau und anderen Komplizen drehte er Kinderpornos, für die er offensichtlich auch einen Markt fand. Der Mitverdächtige Michel Nihoul, eine mehr als zwielichtige Figur mit besten Kontakten zu Politikern, ging in dieser Zeit im Brüsseler Justizpalast ein und aus – als Sachverständiger unter anderem für Versicherungsfragen. Als ein Ermittlungsbeamter Einsicht in die Akte Nihoul wollte, wurde ihm von höherer Stelle empfohlen, die Finger davon zu lassen. Nihoul habe einflußreiche Freunde.

Erst als zwei weitere Mädchen in der Provinzstadt NeufchÛteau entführt wurden und der dortige Staatsanwalt Michel Bourlet die Ermittlungen aufnahm, kam plötzlich Bewegung in die Nachforschungen. Er ließ Dutroux und sieben Komplizen verhaften, zwei Mädchen konnte er lebend aus einem Keller befreien, im Garten fand er vier vergrabene Kinderleichen.

Er rollte selbst den Fall der vor fünf Jahren verschleppten damals neunjährigen Luobna Benaissa wieder auf und fand ihre Leiche in einer aufgelassenen Klinik mitten in Brüssel. Die Brüsseler Polizei hatte ein Alibi nicht überprüft und den Hauptverdächtigen laufen lassen.

Ob Dutroux auch beim Mord an der kleinen Loubna die Finger im Spiel hatte, ist bisher noch unklar. Doch was Bourlet und sein Untersuchungsrichter Marc Connerotte herausfanden, überstieg die Grenzen des Vorstellbaren: Polizei und Justiz hatten bei all den Entführungen nie entschlossen ermittelt, meist wurde nicht einmal ein Untersuchungsrichter eingeschaltet, eine Richterin ging drei Tage nach Übernahme eines Falles erst einmal in Urlaub.

Als dann auch noch der einzig hartnäckige Untersuchungsrichter, Connerotte, vom obersten Gericht wegen Befangenheit abgesetzt wurde, weil er an einem Benefiz-Spaghettiessen teilgenommen hatte, das die Eltern der lebend gefundenen Mädchen ausgerichtet hatten, kochte die Volksseele. Die Verschwörungstheorien blühten, geschürt von vagen Andeutungen der Hauptverdächtigen nach Hintermännern in Justiz und Politik. Waren hohe Staatsrepräsentanten an den Geschäften beteiligt, hatten sie sich auf Sexparties mit kleinen Kindern erpreßbar gemacht?

Die Partouzes, wie sie genannt werden, gab es wirklich, wie sich mittlerweile herausstellte, doch bis heute sind keine Hinweise auf hohe Persönlichkeiten gefunden worden. Nur der homosexuelle Vizepremier Elio di Rupo kam unter Verdacht. Doch dann stellte sich heraus, daß rechte Polizeikreise die Zeugenaussagen eines Strichjungen manipuliert hatten, um den verhaßten Sozialisten und Einwanderersohn zu stürzen. Die Beweise brachen zusammen, gegen den Strichjungen wird wegen Falschaussage ermittelt, die Polizisten sind weiter im Dienst.

Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß hat die Verschwörungstheorien nie ganz entkräften können, fand aber auch keine wirklichen Belege. Doch die Nachforschungen zeichnen ein Bild von der belgischen Justiz und Polizei, nach dem die Dutroux-Affäre auch ohne politische Mitspieler erklärbar ist. Zwar haben einzelne Polizisten die Ermittlungen gezielt behindert, weil sie offensichtlich mit Dutroux wegen diverser Autoschiebereien verbunden waren. Und auch Nihoul, dem Politiker für seine Hilfe bei der Abwicklung von Parteispenden-Affären verpflichtet waren, genoß große Freiheiten in der Justiz.

Doch nicht die bösen Kräfte haben die jahrelangen Grausamkeiten von Dutroux ermöglicht, die ganz normale Gleichgültigkeit eines verantwortungslosen Beamtenapparates reichte aus. „Es gab unter den Untersuchungsrichtern niemand“, klagt ein parlamentarisches Ausschußmitglied, „der bereit war, die Verantwortung zu übernehmen.“

Und es gibt auch jetzt niemand. Der Brüsseler Staatsanwalt Benoit Dejemeppe, dem der Untersuchungsausschuß grobe Unfähigkeit vorwarf, bot noch vor einigen Wochen als Konsequenz seinen Rücktritt an. Inzwischen will er doch bleiben. Dejemeppe sieht nicht ein, warum er den Hut nehmen soll, wenn höhere Beamte ungeschoren davonkommen.

Der ehemalige Justizminister Wathelet, dem der Ausschuß besonders schwere Verfehlungen vorhält, wurde von der Regierung gerade für eine weitere Amtszeit als Richter am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg bestätigt. Premierminister Jean-Luc Dehaene will das fein austarierte Gleichgewicht bei der Verteilung hoher Posten zwischen Flamen und Wallonen nicht gefährden.

Ein Jahr nach der Festnahme von Dutroux kann sich die belgische Regierung solche Winkelzüge bereits wieder leisten. Der Volkszorn ist längst verraucht, die Belgier wollen in Ruhe gelassen werden. Nach einer Umfrage wären heute nicht einmal mehr zehn Prozent der Bevölkerung bereit, noch einmal für politische Konsequenzen aus der Dutroux-Affäre auf die Straße zu gehen.

Die Parteien haben sich darauf eingestellt: Die versprochene Zusammenlegung der rivalisierenden Polizei- und Gendarmerieeinheiten, die auch bei anderen Ermittlungen regelmäßig gegeneinander arbeiten, ist längst vom Tisch. Die Sozialistischen Parteien wollen ihren traditionellen Einfluß auf die Gendarmerie nicht verlieren, die Liberalen halten an der Integrität der Justizpolizei fest, die Bürgermeister wollen weiterhin die Ortspolizei kontrollieren.

Und nicht wenige Bürger finden das in Ordnung. In Belgien ist es gang und gäbe, daß man sich an Politiker wendet, um eine lästige Polizeigeschichte vom Hals zu bekommen. Der Schock darüber, daß ein in Abhängigkeiten verstricktes Polizei- und Justizsystem nicht einmal mehr die Kinder schützen kann, hat nur kurzzeitig das Klima in Belgien verändert.

Unter dem Druck der Öffentlichkeit hatte das belgische Parlament im letzten Jahr eine ganze Reihe von Untersuchungsausschüssen zu Affären eingerichtet oder reaktiviert, die bis zu zwölf Jahre zurückliegen. So sollte zum Beispiel endlich ans Tageslicht kommen, warum die Ermittlungen gegen die Mörder des ehemaligen Sozialistenchefs André Cools nicht vorwärtskamen. Cools wurde 1991 auf offener Straße erschossen, vermutlich, weil er über eine Parteispendenaffäre auspacken wollte. Exminister wurden mehrfach verhaftet und wieder freigelassen, Untersuchungsrichter des Falles enthoben, Beweise verschwanden.

Ein anderer Ausschuß befaßt sich mit den Killern von Brabant, die Anfang der achtziger Jahre in Supermärkten Massaker anrichteten. 28 Menschen wurden damals bei mehreren Überfällen scheinbar grundlos mit Maschinengewehren niedergemetzelt. Obwohl einer der Killer gefaßt wurde, kam die Justiz nicht weiter. Der Untersuchungsausschuß hält es für möglich, daß eine rechtsradikale Gruppe mit Verbindung zu hohen Politikern damals den Staat destabilisieren wollte. Nach einer anderen Theorie sollten Zeugen der Sexparties beseitigt werden. Mit einer Aufklärung rechnet auch der Ausschußmitarbeiter Jean-Jacques Viseur nicht mehr.

Sein Resümee erinnert fatal an die Affäre Dutroux: Das belgische Polizei- und Justizsystem sei zur Verbrechensbekämpfung völlig ungeeignet.