: Verschleppt und nicht gesucht
Felicithas wurde zum drittenmal innerhalb eines Jahres von ihrem Vater entführt. Obwohl die Mutter das Sorgerecht für das Mädchen hat, wurde die Fahndung nach dem Mann eingestellt ■ Aus Berlin Vera Gaserow
Manchmal träumt Ling-Rong Liang, daß ihre Tochter von riesiggroßen Kindern auf den Boden geworfen wird. Dann rennt sie im Traum auf die Fünfjährige zu, will sie in den Arm nehmen, doch das Mädchen fühlt sich plötzlich so winzig an, als sei ihm die Haut zu groß geworden. Vor Angst schreckt Ling-Rong Liang dann hoch, und weiß schon im nächsten Moment, daß da kein Kind ist.
Felicithas Liang ist seit dem 24. April verschwunden. Während ihre aus China stammende Mutter im Rathaus von Berlin-Kreuzberg über asiatische Heilmethoden referierte, wurde die Fünfjährige aus dem Vorraum des Saales entführt. Einen Tag später bestätigte sich der Verdacht: Herbert A., der nichteheliche Vater, ist mit seiner Tochter an einem unbekannten Ort abgetaucht. Es ist das drittemal innerhalb eines Jahres, daß Herbert A. seine Tochter aus der Obhut ihrer allein sorgeberechtigten Mutter verschleppt.
Die erste Entführung im Februar vergangenen Jahres endet nach vierzehn Tagen mit einem Vergleich. Damit A. die Tochter wieder herausgibt, stimmt Frau Liang einer Besuchsregelung zu. Doch der Vermittlungsversuch scheitert. Der Kampf um das vermeintliche Wohl des Kindes wird zum Machtpoker zweier Erwachsener nach einer längst gescheiterten Beziehung.
Im April 1996, Frau Liang hat gerade einen Termin beim Jugendamt, dringen zwei Männer in ihre Wohnung ein. Sie seien von der Telekom, behauptet der eine, dann stoßen sie Frau Liangs Mitbewohnerin beiseite und reißen Felicithas aus dem Bett. Fünf Monate lang fehlt von ihr jedes Lebenszeichen. Dann findet man zufällig ihre Spur. Auf der Suche nach einem anderen Kind, ebenfalls von seinem Vater entführt, stößt die Polizei auf einen Bungalow in der Nähe von Fulda. Darin versteckt: Herbert A. und die vermißte Felicithas.
Mehr als ein Jahr braucht die Staatsanwaltschaft, um gegen Herbert A. und seine Helfer Anklage zu erheben wegen Kindesentziehung. Darauf stehen als Höchststrafe fünf Jahre Haft. Doch noch bevor es zu einem Prozeßtermin kommt, entführt Herbert A. seine Tochter zum drittenmal.
Seitdem kennen angeblich weder seine Familie noch sein Anwalt seinen Aufenthaltsort. Doch im Privatsender Pro7 treten beide auf und spielen einen vermeintlichen Trumpf aus: Sie hätten das kleine Mädchen aus den Fängen einer chinesischen „Psychosekte“ befreit, deren führendes Mitglied Felicithas Mutter sei.
Tatsächlich hält Frau Liang bei einem Verein namens „Lotus Akadamie“ Qi-Gong-Kurse und Heiltrainings ab. Dort lernte Herbert A. sie einst kennen. Daß es sich dabei um eine „Psychosekte“ handelt, ist nicht erwiesen. Der Verein, mutmaßt Berlins Sektenbeauftragte Anne Rühle, sei wohl am ehesten dem „weichen Ganzheitlichkeitsmarkt“ zuzurechnen, auf dem sich mit einer Mischung aus Geschäfts- und Sendungsbewußtsein sowie alternativen Heilmethoden zahllose Gruppen tummeln. Doch im Streit um das gemeinsame Kind „funktioniert der Sektenvorwurf wie ein Totschlagargument“, meint Frau Liangs Berliner Anwältin, Doris Dreher.
Zumindest ein anderer Vorwurf, den Herbert A. medienwirksam streute, ließ sich leicht entkräften. „Lebensbedrohlich erkrankt“ und in „verwahrlostem Zustand“ habe der Vater sein Kind angetroffen und aus der Obhut der Mutter befreit, behauptet sein Anwalt. Exakt einen Tag vor der Entführung kam die Ärztin des Gesundheitsamts zu einem ganz anderen Urteil: „Während des gesamten Untersuchungszeitraumes war Felicithas freundlich zugewandt und stimmungsmäßig ausgeglichen. Sie arbeitete konzentriert mit und war emotional und körperlich gut belastbar.“ Die Beziehung zur Mutter wirkte „positiv zugewandt“.
Den Familienrichter überzeugte das. Kindesvater A. habe seine Tochter unverzüglich herauszugeben, ordnete er einen Tag nach der Entführung an. Herbert A. wurde zur Fahndung ausgeschrieben. Aber ein Staatsanwalt erwirkte die Aufhebung des Haftbefehls. Eine Kindesentziehung setze die Anwendung von „List, Drohung oder Gewalt“ voraus. Und da niemand Felicithas Verschwinden aus dem Kreuzberger Rathaus beobachtet hatte, sei dieser Vorwurf nicht erwiesen. Die Tochter könne, so die Gedankenspiele des Juristen, dem Mann, der sie bereits zweimal entführte, ja auch freudestrahlend gefolgt sein.
Mit der Aufhebung des Haftbefehls ist die Suche nach Felicithas faktisch eingestellt. Selbst wenn Herbert A. bei einer zufälligen Verkehrskontrolle entdeckt würde, können die Beamten ihn nur auffordern, seinen Aufenthaltsort zu nennen. Festnehmen dürften sie ihn nicht. Die Suche nach Felicithas bleibt damit einzig und allein der Mutter überlassen. Frau Liang ist nach Mörfelden gefahren, dem früheren Wohnort von Herbert A. und verteilte dort Suchmeldungen. Sie lieh sich Geld, um einen – erfolglosen – Detektiv zu bezahlen.
Fast vier Monate nach Felicithas Verschwinden sitzt eine fassungslose Frau Liang mit einem Aktenordner voller Anwaltsbriefe und Gerichtsbeschlüssen am Küchentisch. Sie hat es schwarz auf weiß vom Familiengericht: Das kleine Mädchen muß ihr sofort zurückgegeben werden. Aber nun gibt es keine Behörde, die diesen Beschluß auch umsetzt.
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