„Westdeutsche Löhne sind diskriminierend“

■ Bundeskartellamt rügt einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht: Der Berliner Senat vergibt Bauaufträge nur an Baufirmen, die sich an die Tarifordnung halten

Berlin (taz) – Das Bundeskartellamt will dem Berliner Senat untersagen, Bauaufträge nur an Firmen zu vergeben, die deutsche Tariflöhne zahlen. Der Senat läßt sich zur Zeit Tariftreueerklärungen von Auftragnehmern unterzeichnen. So soll verhindert werden, daß auf öffentlich finanzierten Baustellen untertarifliche Mindestlöhne gezahlt werden.

Nicht nur Berlin verpflichtet die Firmen dazu. Nach Auskunft der Gewerkschaft IG BAU ist dies in weiteren elf Bundesländern Praxis. Das Kartellamt argumentiert nun, diese Regelung sei eine „knallharte Diskriminierung“ von Baufirmen, die ihren Arbeitern weniger Lohn zahlten. „Besonders ostdeutsche Unternehmen und solche, die nicht dem Arbeitgeberverband angehören, verlieren die Möglichkeit, ihren oft einzigen Vorteil, nämlich die niedrigen Lohnkosten, beim Wettbewerb einzusetzen“, sagte Regina Kazmierczak, Sprecherin des Bundeskartellamtes, gestern zur taz. Die geforderte Tariftreue verstoße gegen die Vorschriften des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Demnach darf ein marktbeherrschender Auftraggeber wie die öffentliche Hand Auftragnehmer nicht behindern.

Zumindest beim Straßenbau beherrscht der Senat als Auftraggeber den Markt. Etwa 80 Prozent aller Bauaufträge in diesem Bereich werden vom Staat finanziert. Das Auftragsvolumen im Tiefbau umfaßt eine Milliarde Mark, weitere 30 Milliarden sind für andere Bauprojekte veranschlagt. Laut Senatsangaben betrifft die Tariftreueerklärung ein Bauvolumen von bisher acht Milliarden Mark. Das Kartellamt kritisiert, durch die Erklärung würden die öffentlichen Aufträge verteuert.

Dem widerspricht der Bausenat. Sprecherin Petra Reetz sagte gestern, ein Arbeitnehmer, der in Berlin wohne, könne nicht von einem Mindeststundenlohn von derzeit noch 17 Mark leben. Der Tarifvertrag liege acht Mark darüber. Zudem könne nicht die Rede davon sein, daß Tariflöhne die Aufträge verteuerten.

Das Kartellamt hat dem Senat eine vierwöchige Frist gesetzt, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Der Senat will an seiner Vergabepraxis festhalten – und den Rechtsweg nicht scheuen. Die Kartellamtssprecherin betonte, das Abmahnverfahren beziehe sich derzeit auf die Aufträge im Tiefbau. Falls die letztgerichtliche Instanz sich dieser Auffassung anschließt, werde die gesamte Vergabepraxis mit Tarifzwang zu Fall gebracht werden.

Den Vorwurf, daß das Bundeskartellamt sich auf eine formaljuristische Argumentation zurückziehe, konterte Frau Kazmierczak mit dem Einwand: „Westdeutsche Löhne sind diskriminierend.“ Seit gut zwei Jahren ist dieses Vergabeverfahren in Berlin Usus. In dieser Zeit habe es „wohl mal Beschwerden darüber gegeben“, aber der Entschluß zur Abmahnung habe das Amt ohne Aufforderung getroffen.

Der Vorstoß des Kartellamtes kann auch Auswirkungen auf andere Bundesländer haben. Bayern, Brandenburg oder Nordrhein- Westfalen etwa pochen ebenso wie Berlin auf den Treueschwur vor der Vergabe öffentlicher Vorhaben. Annette Rogalla

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