■ Indien und Pakistan feiern den 50. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit vom Empire. In Indien hält sich die Begeisterung in Grenzen. Die Briten sind zwar fort, aber Armut und Ungleichheit sind geblieben.
: Aus Sklaven wurden Diener

Indien und Pakistan feiern den 50. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit vom Empire. In Indien hält sich die Begeisterung in Grenzen. Die Briten sind zwar fort, aber Armut und Ungleichheit sind geblieben.

Aus Sklaven wurden Diener

Dreifarbige Fahnen sind zur Zeit der Renner auf Indiens Märkten. Textilmühlen und Plastikfabriken produzieren Safrangelb- Weiß-Grün am laufenden Band. Slumbewohner in Bombay und Kalkutta schneiden daraus kleine Wimpel, kleben sie an Bambusstäbe und verkaufen sie an jeder Straßenecke. Zeitungsanzeigen und Plakatwände erinnern landesweit alle 950 Millionen Inderinnen und Inder daran, daß ihr Staat heute 50. Geburtstag feiert.

Die Begeisterung der Bürger des nach China bevölkerungsreichsten Landes der Erde hält sich allerdings in Grenzen. Nur wenige haben die dramatische Befreiung von europäischer Herrschaft tatsächlich noch miterlebt. Weder die permanente Regierungskrise in Neu-Delhi noch die Schlammschlachten der in Korruptionsskandalen verwickelten Politiker inspirieren zum nationalen Schulterklopfen. „Unter den Engländern war alles viel billiger, es herrschten Ehrlichkeit und Menschlichkeit“, erinnert sich der 70jährige Bauaufseher Mehboob Imam Sheikh im südindischen Pune. „Heute gebärden sich unsere Politiker wie Diebe, aber wenn unsereins etwas klaut, wird er eingesperrt.“

Der legitime Erbe der Freiheitsbewegung, die Kongreßpartei, schlingert durch die schwerste Krise ihrer Geschichte. Nach der vernichtenden Wahlniederlage im vergangenen Jahr sucht die Partei der Nehru-/Gandhi-Dynastie nach neuen Führern und einem neuen Programm. Vor sechs Jahren brach das offizielle Indien mit den Idealen der Freiheitsbewegung – Autonomie und Autarkie – und leitete eine Liberalisierung der Wirtschaftspolitik ein. Finanzminister P. Chidambarram gelobte dieser Tage vor Managern, die Armut innerhalb von 15 Jahren abzuschaffen. Sein Rezept: ein hohes, durch ausländische Investitionen unterstütztes Wirtschaftswachstum. „Trinkwasser statt Pepsi“, fordert dagegen ein landesweites Bündnis von Umweltschützern, Gewerkschaften und Basisgruppen, das zum heutigen Nationalfeiertag zu Protesten gegen den wachsenden Einfluß multinationaler Konzerne aufgerufen hat. Die „Kampagne zur Stärkung des Volkes“, in der führende Bürgerinitiativen des Landes zusammenarbeiten, fordert eine Rückbesinnung auf die Ideale Mahatma Gandhis: Selbstverwaltung der Dorfgemeinschaften, Entwicklung von unten.

Zigtausende von Glühbirnen illuminieren in der Nacht die historischen, von britischen Architekten entworfenen Regierungsgebäude in Neu-Delhi. Auf der Paradeallee zum Regierungssitz sollte gestern abend der „Marsch der Nation“ stattfinden – in Erinnerung an die Volksmärsche Gandhis seit den zwanziger Jahren. 300 ehemalige Freiheitskämpfer sollten mit Fackeln das Volk symbolisch in die Freiheit führen. Am „Siegesplatz“ schließlich sollte dann Regierungschef Inder Kumar Gujral die Nationalflagge in Empfang nehmen.

Für Mitternacht war eine Sondersitzung des Parlaments vorgesehen. Vom Tonband sollte die historische Rede von Premierminister Jawarhalal Nehru erklingen, der Indien vor 50 Jahren unabhängig erklärte. Sein Land habe einen Pakt mit dem Schicksal geschlossen, erklärte er. Nun komme es darauf an, Armut und Chancenungleichheit zu überwinden.

Die alljährlich am 15. August in jedem Stadtteil, in jedem Dorf veranstalteten Rituale zum Unabhängigkeitstag werden von den meisten als langweilige Pflicht empfunden. Schulkinder treten in Uniformen an und stehen stramm, wenn der Lehrer die Trikolore hißt. Dann müssen sie das Lied aus dem Freiheitskampf „Vande Mataram“, die heutige Nationalhymne, singen: „Ich salutiere vor Dir, geliebtes Mutterland“.

Doch diesmal sollte alles anders werden: Nach dem Willen der Regierung werden am heutigen Nationalfeiertag Unterhaltungsprogramme und Sozialdienste eine möglichst breite Beteiligung der Bevölkerung sichern. „Ja, natürlich gehe ich hin“, sagte im Vorfeld der Feierlichkeiten in Pune der 17jährige Tagelöhner Anil Bhise. „Obwohl, viel zu feiern gibt es eigentlich nicht. Unter den Engländern waren wir Sklaven, heute sind wir Diener.“ Rainer Hörig, Pune