Deutsche Zustände und Geschichten

■ Die Reportagen der Jane Kramer, Korrespondentin des „New Yorker“

„Die Deutschen wollen, daß ihre Vergangenheit ihnen zugestoßen ist. Sie wollen unter sich selbst gelitten haben, so wie alle anderen unter ihnen gelitten haben.“ Seit den siebziger Jahren schreibt Jane Kramer Reportagen aus Europa für den New Yorker, das führende intellektuelle Wochenmagazin der USA. Der Verleger Klaus Bittermann hat die Deutschland-Reportagen der neunziger Jahre als eigenen Band herausgebracht

Geschichten einer Nichtdeutschen über deutsche Zustände zu lesen ist lohnenswert, zumal wenn diese Geschichten das hiesige Selbstverständnis Ost wie West an empfindlicher Stelle berühren.

Für Kramer ist Deutschland stets the other, ein Land, dem sie sich mit kritischer Distanz nähert, um den Lesern in Amerika von den Eigenheiten der dort lebenden Menschen zu erzählen. Neutralität ist dabei nicht ihr Anspruch. Das macht den Reiz ihrer Geschichten aus. Ohne sich selbst groß in Szene zu setzen, schafft sie eine Persönlichkeit, die hinter den Reportagen steht. Das gelingt einfach durch die Prägnanz ihrer Aussagen. Wenn sie beispielsweise der Holocaust-Denkmal-Initiatorin Lea Rosh bescheinigt, „die Identifikation mit dem Jüdischsein als eine deutsche Pflicht“ zu erfüllen, mag das eine kontroverse These sein, sie trifft aber hiesige Empfindlichkeiten ins Mark.

Die in dem Band versammelten Geschichten handeln von „deutschen“ Themen: der neuen Qualität des Neonazismus nach der Wiedervereinigung, der speziellen Situation von Berlin, den Stasi-Verwicklungen der Künstlerszene von Prenzlauer Berg und eben der Debatte um die Initiative von Lea Rosh für ein Holocaust-Denkmal in Berlin.

Es ist schlichtweg faszinierend, welche Fülle an Informationen Jane Kramer über die jeweiligen Themen zusammenträgt und wie sie aus den Geschehnissen und ihren Beobachtungen eine Geschichte zum Beispiel von Prenzlauer Berg macht. Menschen, mit denen sie sich näher beschäftigt, wie Sascha Anderson oder Rainer Schedlinski werden für den Leser in ihrer Problematik ebenso verständlich (wenn auch nicht entschuldigt) wie die Zustände am Prenzlauer Berg insgesamt.

Was ihr dabei gelingt, ist, substantielle Kritik am Verhalten einzelner zu üben, ohne in einseitige Polemik zu verfallen.

Fazit: Auch wenn die Reportagen an sich gar nicht für Deutsche geschrieben sind, so würde ich ihnen doch empfehlen, sie zu lesen. Martin Hager

Jane Kramer: „Unter Deutschen. Briefe aus einem kleinen Land in Europa“, Berlin 1996, Edition Tiamat, 303 S., 44 DM