Vergeßt mir das alte Denken nicht!

Gestern wurde der Großbürger und Sozialist Jürgen Kuczynski auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt. Seine Söhne Peter und Thomas erzählten am Grab von einer längst vergangenen Welt  ■ Aus Berlin Jens König

Das hätte Kuczynski vermutlich gefallen: sein Grab direkt neben dem von Heiner Müller. Der Optimist neben dem Apokalyptiker. Der Wissenschaftler, der nie daran zweifelte, daß sich Fortschritt und Vernunft eines Tages durchsetzen werden und der stets fröhlich in die Zukunft sah, neben dem Dramatiker, der lieber in den Abgrund schaute und dort Verrat entdeckte. Jürgen Kuczynski schätzte das Widersprüchliche, und er neben Heiner Müller – das hätte wohl auch seiner Eitelkeit geschmeichelt.

Kuczynski, der am 6. August im Alter von 92 Jahren verstorben ist, wurde gestern auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt. Mehr als 200 Menschen nahmen von ihm Abschied – seine zwei Söhne und seine Tochter, seine Schwester Ruth Werner, Schriftstellerin und Meisterspionin des sowjetischen Geheimdienstes, Freunde, ehemalige Mitarbeiter, die PDS-Spitze mit Gregor Gysi, Lothar Bisky und Hans Modrow. Seine Frau Marguerite war nicht am Grab, das war Kuczynskis letzter Wunsch. „Das würde mich glücklich machen“, sagte er vor seinem Tod. 70 Jahre hat sie an seiner Seite gelebt, und mit der noch selben Sekretärin und dem noch selben Chauffeur wie vor 40 Jahren war vor allem sie es, die dafür sorgte, daß in ihrer Weißenseer Büchervilla die Zeit auf wundersame Weise stehengeblieben war.

Davon sprachen auch die beiden Söhne Peter und Thomas am Grab ihres Vaters. Und je länger sie erzählten, desto klarer wurde noch einmal, daß Jürgen Kuczynski zu einer längst ausgestorbenen Klasse gehörte. Der Sohn aus einer jüdischen Gelehrten- und Bankiersfamilie, der als Jugendlicher Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Clara Zetkin und Karl Kautsky noch kennenlernte, stand ein Leben lang treu im Dienst der Partei, der Partei in dem großen historischen Sinne. Der letzte große Einzelgelehrte und Grandseigneur der DDR-Gesellschaftswissenschaften bezeichnete sich selbst einmal als linientreuen Dissidenten, andere meinten, er sei eher ein treuer Rebell – er war wohl weder das eine noch das andere.

Peter Kuczynski schilderte in seiner Grabrede die Atmosphäre im Haus seines Vaters, die von nichts so sehr bestimmt gewesen sei wie von Arbeit. Wenn es hieß: „Vati arbeitet“, hätten in der Familie alle gleich reagiert. Keiner hätte auch nur gewagt, sein Arbeitszimmer zu betreten. Sein Schreibtisch war das größte Tabu im Haus, die riesige, mehr als 60.000 Bücher umfassende Bibliothek das größte Glück für die Kinder. Sohn Peter erzählte vom Ritual des sonntäglichen Mittagessens, an dem der Patriarch seine Familie um sich geschart und mit ihr diskutiert habe. Ständig sei während des Essens einer aufgesprungen, zum Bücherregal gegangen auf der Suche nach der Bestätigung für irgendeine These, und dann triumphierend oder geschlagen an den Tisch zurückgekehrt. Diese praktizierte Streitbarkeit hätte aber auch seine Tücken gehabt. Sein Vater sei oft rechthaberisch und verletzend gewesen.

Jürgen Kuczynski lebte die Marxsche Vorstellung vom Kommunismus, wonach die Arbeit das erste Bedürfnis des Menschen sei. Gearbeitet hat er bis zum Schluß. An dem Morgen, an dem er nicht mehr aufwachte, lagen drei Manuskripte für Zeitungsartikel auf seinem Schreibtisch. Sein Werk als Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler ist fast unüberschaubar.

J. K., wie er sich selbst gerne nannte, war das gelebte 20. Jahrhundert. Sohn Thomas wies gestern jedoch darauf hin, daß sein Vater durch die vielen Bücher 3.000 Jahre Geschichte erlebt habe. Obwohl Anhänger der Perestroika in der Sowjetunion, habe er immer wieder gewarnt: Vergeßt mir das alte Denken nicht! Nur wo Wandel sei, werde das Konstante, das historisch Relevante sichtbar.

Vor vier Monaten ist sein Freund Stephan Hermlin, der sich als spätbürgerlicher Dichter sah, gestorben. Mit Jürgen Kuczynski liegt jetzt endgültig das letzte Stück Großbürgerlichkeit der DDR auf dem Friedhof begraben.