Das Opfer berichtet, der Täter gähnt

Am zweiten Tag des Prozesses gegen Kay Diesner schilderte Klaus Baltruschat den Überfall auf seinen Buchladen. Die Polizei versäumte, rechtzeitig gegen Neonazis zu ermitteln  ■ Aus Lübeck Annette Rogalla

Die Atmosphäre blieb beklemmend wie am ersten Verhandlungstag, als gestern vor dem Lübecker Landgericht der Prozeß gegen Kay Diesner fortgesetzt wurde. Dem 24jährigen wird vorgeworfen, im Februar in Berlin-Marzahn den Buchhändler Klaus Baltruschat schwer verletzt und kurz darauf während seiner Flucht in Schleswig-Holstein einen Polizisten getötet zu haben. Diesner, der jahrelang der harten Neonaziszene von Berlin angehörte, muß sich insgesamt für einen vollendeten Mord und vier versuchte Morde verantworten.

Am ersten Prozeßtag vor einer Woche hatte Diesner sein Taten geschildert: Der bullige junge Mann wirkte kalt, berechnend, voller Haß. Der gestrige Tag knüpfte an diese Atmosphäre an. Das Gericht hatte Klaus Baltruschat, Opfer und einer von drei Nebenklägern, als Zeugen geladen. Baltruschat konnte sich detailgenau erinnern.

Wie gewöhnlich schließt er an jenem Morgen, am 19. Februar gegen neun Uhr seinen Buchladen auf, läßt die Tür weit offenstehen, geht hinauf ins Büro, hört den Anrufbeantworter ab, auch hier bei offener Tür. Kurz darauf hört er Schritte hinter sich, will schon sagen: „Bei der PDS ist noch niemand da“, dreht sich um und sieht eine „vermummte Gestalt mit schwarzen Springernstiefeln vor sich“. Zwei Schüsse fallen. „Ich brach sofort laut schreiend zusammen.“

Klaus Baltruschat liegt auf dem Boden, als ihn der dritte Schuß trifft. Ohnmächtig wird er nicht, als er bemerkt, daß sein linker Unterarm zerfetzt aus dem Anorakärmel hängt. „Ich sah meine linken Finger an der Hand baumeln, in einem war ein Loch drin.“ Blutüberströmt rappelt sich der 63jährige auf und stolpert die Treppe hinunter. Auf der Straße bricht er zusammen. Während des Überfalls verliert der Attentäter kein Wort.

Das Gericht hörte schockiert zu. Kay Diesner, der ihn zum Krüppel geschossen hat, gähnte.

Dessen zur Schau gestellte Langeweile konnte Fritz Vilmar, den Vorsitzenden Richter, nicht provozieren. Präzise ließ er sich die schlimmen Folgen schildern, mit denen Klaus Baltruschat heute leben muß: Die Taubheit in den verbliebenen vier Fingern der rechten Hand, die Schmerzen der 15 Zentimeter langen Narbe, die sich rechts bis in den Rücken hineinzieht, die Tatsache, daß er aufgrund der Amputation des linken Unterarms kein Bücherverzeichnis mehr anheben kann.

„Aber heute kann ich wieder schlafen“, sagte Baltruschat, „in meinen Träumen steht die Gestalt nicht mehr in der Tür“. Was er über Diesner heute denkt? „Bei der unerträglichen Regierungshetze gegen die PDS an den Tagen zuvor kam der Anschlag nicht überraschend.“

Vier Tage vor dem Attentat, am 15. Februar, kam es in Berlin-Hellersdorf zu Krawallen, bei denen Rechtsextremisten von Autonomen verprügelt wurden. Innensenator Jörg Schönbohm hatte die PDS dafür verantwortlich gemacht. Vergangene Woche sagte Kay Diesner aus, er habe der PDS mit dem Attentat einen „Denkzettel“ verpassen wollen.

Den politischen Hintergründen der Tat und der Rolle der Berliner Polizei bei den Ermittlungen widmete der Vorsitzende Richter den zweiten Teil des gestrigen Tages. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob der Mord an dem Polizisten Stefan Grage hätte verhindert werden können. Grage wurde vier Tage nach dem Attentat auf Baltruschat von Diesner erschossen.

Dazu hörte Richter Vilmar den Berliner Chefermittler Axel Curth an. Curth räumte ein, Diesner sei seit 1994 als „Rechtsextremer“ aus dem Umfeld des Neonazi-Gurus Arnulf Priem bekannt gewesen.

Kay Diesner, auch das wußte die Polizei, wohnte in der Nähe des Buchladens in Berlin-Marzahn, ebenso wie zwei andere bekannte Neonazis. Die Polizei unterließ es jedoch, nach ihnen zu suchen, obwohl sie von Anfang an vermutete, daß Baltruschats Attentäter aus der rechten Szene komme.