Nebenberuf: Deckhengst

■ Dressur-EM in Verden: Isabell Werth holte Gold - auch ohne löcherige Stiefel

Welch furchtbare Reiterpein! „Die Füße sind so sehr geschwollen, daß man überhaupt nicht mehr ohne fremde Hilfe aus den Stiefeln kommt. Alles ist völlig aufgeweicht und klebt!“

Doch die Füße der mehrfachen Dressur- Olympiasiegerin, Europa- und Weltmeisterin Nicole Uphoff-Becker waren in Verden weder geschwollen noch aufgeweicht, und sie klebten auch nicht. Nein, Frau Uphoff-Becker hatte in diesem Jahr keinen ihrer Zossen auf EM-Niveau dressiert. Deshalb trug sie auch bei den 17. Dressur-Europameisterschaften in Verden Sandalen und keine kniehohen Lederreitstiefel. Frau Uphoff-Beckers Füße stanken nicht nach Schweiß, sie waren staubig.

Wären bei über 30 Grad im Schatten Sandalen und Shorts keine Alternative zu Lederreitstiefeln, Zylinder und Frack gewesen? „Niemals. In Sandalen hat man keinen Halt und in kurzen Hosen scheuert man sich die Beine auf. Aber es gibt luftige Reitstiefel mit Löchern. Keine Ahnung, warum die hier keiner trägt.“

Die löcherigen, 1.500 Mark teuren Lederstiefel sind der Renner in Übersee, zum Beispiel bei Mexikos Reitern. „Da ist es ja immer warm. In Deutschland will sie keiner haben“, bedauert Stiefel-Produzentin Angelika Kempkens aus Krefeld.

Also schwitzten Europas beste Pferde-Dressierer was das Zeug hielt und verunreinigten Verdens Abwasser mit salzigem, stinkendem Schweiß. Die Rheinbergerin Isabell Werth scherte sich nicht darum und holte auf dem Hengst Gigolo mit 234,2 Punkten auch ohne Löcherstiefel EM-Gold. Die Holländerin Anky van Grunsven landete mit 233,8 Zählern auf Platz zwei.

Aber auch dem Pferd war warm in Verden. Für schwitzende Vierbeiner wurde Abhilfe geboten: In Form von selbstkühlenden Kompressionsbandagen. „Cool Bandage“heißt der Wunderwadenwickel für 79 Mark.

Atmungsaktive Sattelunterlagen mit Latexkern und eingebautem Stoßdämpfer sollen den geschundenen Pferderücken entzücken. Eher für strapazierte Reiterbandscheiben ist ein Massagesessel gedacht. Probeliegen und -kneten auf dem 5.000 Mark teuren Ding war kein Problem.

Mag sein, daß sich die deutsche Equipe auf dem Sitzmöbel mental auf die EM vorbereitet hat. Denn ganz entspannt und durchlässig im Rücken (so nennt man das in der Reiterfachsprache) holte sie mit 5489 Punkten wieder einmal den Mannschaftstitel vor den Niederlanden (5340 Punkte) und Schweden (5091 Punkte).

Mannschaftstitel? Nein, genauer gesagt Frauschaftstitel, denn erstmals hockten im deutschen Team mit Isabell Werth, Karin Rehbein, Nadine Capellmann-Biffar und Ulla Galzgeber nur Frauen auf den Zossen. Getragen wurden die Dressur-Damen von drei kastrierten und einem „echten“Kerl.

Der echte heißt Donnerhall und holte mit seiner Reiterin Karin Rehbein in Verden die Bronzemedaille. Nebenberuflich ist Donnerhall Deckhengst. Seit Jahren ist er unter Pferdezüchtern heißbegehrt. Die blättern schon mal einige Tausend Mark auf den Tisch, damit der potente dunkelbraune Pferdedamen mit seiner Samenspende beglückt.

Leider darf er sich nicht persönlich an die Arbeit machen. Denn das edle Roß könnte von unwilligen Stuten getreten und gebissen werden. Und so läßt er sich immer wieder von einem Stutenphantom foppen. Das Ergebnis dieser Verballhornung wird dann in handliche Portionen gepackt und den Stuten von einem Tierarzt verabreicht.

Ja, die Tierärzte, die hatten in Verden alle Hände voll zu tun. Dopingproben mußten von den Vierbeinern genommen, Sälbchen verabreicht und ständig darüber gewacht werden, ob das Wetterhoch „Hannes“den Rössern doch nicht allzusehr zusetzte.

„Pferde haben ein Recht auf Schlaf“, stellte beispielsweise Turnieroberveterinär Dr. Peter Cronau fest. Und deshalb glich der Stallbereich einem Hochsicherheitstrakt. Ohne Teilnehmerbändsel oder besonderen Special-VIP-Ausweis kam niemand in die geheiligten Pferdeställe. Aber ob's wirklich nur um den Schlaf der dressierten Vierbeiner ging? So munkelte ein Pferdefachjournalist: „Die haben hier doch alle Dreck am Stecken. Die haben schon ihre Methoden, wie sie ihre Pferde mit Mittelchen und kleinen Pieksern auf Trab bringen.“Solcherart Behauptung ist unfein und wird in der Pferdeszene gar nicht gern gehört. Deshalb ist der Pferdemann auch arbeitslos.

Anja Philipp-Kindler