Überleben im Shanghaier Ghetto

In der chinesischen Metropole Shanghai überlebten im Zweiten Weltkrieg 20.000 jüdische Flüchtlinge aus Europa den Holocaust. Im Stadtteil Hongkou werden die Erinnerungen ans ungewöhnliche Exil lebendig  ■ Aus Shanghai Georg Blume

Hochhäuser bringen in Shanghai niemand mehr zum Erstaunen. Es gibt ihrer einfach zu viele. Zwanzigtausend Baustellen hat die Stadt. Im Stadtteil Pudong, dem neuen Börsenzentrum, werden täglich 120.000 Tonnen Baumaterial verbraucht. Längst ist deshalb der Mythos von der Superstadt an der Jangtse-Mündung wiedererwacht. Ob Bundespräsident Roman Herzog im vergangenen Herbst oder der Wirtschaftsausschuß des Bundestags in diesem Sommer: Alle fahren nach Shanghai, um Chinas neue Welt kennenzulernen.

Doch hat man als Deutscher in Shanghai noch andere Verpflichtungen. Dazu muß man dem Wirtschaftsboom den Rücken kehren und die prächtigen Ufer-Skylines mit ihren postmodernen Wolkenkratzern und neogotischen Kolonialklötzen hinter sich lassen. Der Teil von Shanghai, der am engsten mit der deutschen Geschichte verflochten ist, liegt im Nordosten der Stadt. Es ist das alte Hafenviertel Hongkou, ein buntes Gassengewirr, durchsetzt mit alten Kolonialbauten, in dem diejenigen ihr Zuhause suchen, die die Stadt reich machen und doch nicht zu ihr gehören: Seefahrer, Landflüchtlinge, Wanderarbeiter.

Ganze Familien drängen sich hier in kleine Hinterhofbaracken. Aus den Hausportalen weht der Essensgeruch kollektiver Kochstätten. In den Straßen werden Nudeln mit Tofu verkauft. So leben viele Shanghaier heute nicht viel anders als vor fünfzig Jahren. Das aber ist überraschund: Damals wohnten in Hongkou 20.000 europäische Juden – annäherend die Hälfte von ihnen aus Deutschland. Viele Altansässige kennen sie noch. „Die Juden wurden von Hitler verfolgt und die Chinesen von den Japanern, die damals Shanghai besetzt hatten“, berichtet Wang Faliang (78), der seit 70 Jahren in Hongkou wohnt. „Zwar konnten wir den Juden nicht helfen und die Juden nicht uns. Aber wir sympathisierten miteinander, weil wir gemeinsam Not litten.“

Damit öffnet der ehemalige Motorfabrikarbeiter aus Shanghai ein Kapitel des Holocaust, das keinen der hochrangigen deutschen Gäste, die die chinesische Hafenmetropole bereisten, je beschäftigt hat und auch in der deutschen Holocaust-Forschung bisher kaum auftaucht.

Der deutsche Blackout ist um so verwunderlicher, als Chinesen und Israelis große Anstrengungen unternehmen, die jüdische Geschichte von Shanghai aufzuarbeiten. Schon 1988 wurde an der Shanghaier Sozialakademie ein Zentrum für hebräische Studien eröffnet, das mit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Peking und Tel Aviv im Jahr 1992 regen Zulauf israelischer Histroriker bekam. „Beim Besuch von Jitzhak Rabin habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß seine Arbeiterpartei 1947 in Shanghai eine Parteizelle unterhielt. Der Premierminister wußte davon nichts“, erinnert sich Pan Guang, Leiter des Jüdischen Zentrums in Shanghai, an den Besuch des ermordeten israelischen Premierministers in Shanghai.

Inzwischen haben die Israelis verstanden: „Was Shanghai für die Juden getan hat, hat damals niemand auf der ganzen Welt getan“, betont Ora Namir, im vergangenen Jahr noch Arbeitsministerin unter Rabin, heute Botschafterin Israels in Peking. Namir bezieht sich auf die Jahre 1938 bis 1941. Shanghai, das unter Verwaltung der Kolonialmächte stand, war damals der letzte Ort der Welt, der Juden ohne Reisepapiere aufnahm. Da die Nazis jüdischen Bürgern zu dieser Zeit keine Papiere mehr ausstellten, war die Bedingungslosigkeit für die Einreise entscheidend.

Den Geretteten fiel es zunächst schwer, an ihr Glück zu glauben. Sie mußten eine unendlich strapaziöse Reise auf sich nehmen. Und Shanghai im Krieg war kein Zuckerschlecken. Seuchen und Krankheiten rafften zwischen 1940 und 1945 hunderttausend Einwohner der Stadt hinweg, darunter tausendsiebenhundert jüdische Flüchtlinge. Die japanische Besatzungmacht behandelte Juden und Chinesen gleichermaßen abfällig. Doch das Schicksal der überlebenden Juden, die sonst in Auschwitz hätten enden können, bleibt ein positives Kapitel der Kriegsgeschichte: „Jeder israelische Politiker, der heute nach China kommt, bedankt sich bei den Chinesen für die Rettung der Juden von Shanghai“, unterstreicht Ora Namir. Kein deutscher Politker aber hat das bisher getan.

Dabei ist es nicht schwer, der jüdischen Geschichte von Hongkou auf die Spur zu kommen. Da stehen noch die gleichen altenglischen Steinbauten, in denen während des Krieges Bäckereien und Cafés ihre europäischen Kunden lockten. Chusan-Straße nannten die Flüchtlinge ihre Marktzeile, heute ist es die Zhoushan-Straße, auf der chinesische Kleider, Spielzeug, Obst und Gemüse an kleinen Verkaufsständen feilgeboten werden.

Im Haus Nummer 59 wohnt seit den 50er Jahren der Universitätsangestellte Huang Jinin (50). Er zeigt den Weg in den Hinterhof, vorbei an einer kleinen Nähwerkstatt, eine schmale Stiege hinauf zu dem winzigen Raum, wo vor einem halben Jahrhundert die Familie Michael Blumenthals wohnte. Blumenthal war Berliner und wurde später in den USA Finanzminister. „Der amerikanische Minister hat unser Haus schon mehrmals besucht und dabei jedesmal geweint“, berichtet Huang stolz.

Wer will, kann sich mit den alten Menschen in Hongkou heute noch über die deutsch-chinesischen Nachbarschaftsverhältnisse von damals unterhalten. Ohnehin steht am Rentnertreffpunkt im Huoshan-Park von Hongkou bereits eine Gedenktafel für die ehemalige jüdische Bevölkerung des Stadtteils. „In unsem Haus lebten fünf chinesische und fünf jüdische Familien“, erzählt Zhou Qinshan, 72, ein pensionierter Bauingenieur. „Die Juden verdienten sich das Geld als umherziehende Musikanten. Die meisten von ihnen hatte keine richtige Arbeit und waren genauso arm wie wir. Der Unterschied war, daß wir – solange es etwas gab – Reis aßen und die Juden Brot.“

Die Unterschiede zwischen Chinesen und Juden überwogen auch nach Kriegsende noch, als nahezu alle Flüchtlinge Shanghai wieder verließen, um meist nach Amerika oder Israel auszuwandern. Doch immerhin zehn Jahre verbrachten die meisten „Shanghailänder“ in China. Zu keinem anderen Zeitpunkt der Geschichte haben so viele Deutsche im Reich der Mitte gelebt. Heute sind es gerade noch dreitausend.

Das wichtigste Denkmal aus dieser Zeit ist die 1927 von weißrussischen Juden errichtete Synagoge von Hongkou. Sie war das kulturelle Zentrum des Judenviertels. Der guterhaltende rote Ziegelbau beherbergt inzwischen ein kleines Museum, in dem Bilder und Materialen aus der Zeit der Shanghailänder ausgestellt werden. Viele Flüchtlinge von damals sind inzwischen an den Ort zurückgekehrt: Es gibt eine kleine Bibliothek mit autobiographischen Veröffentlichungen aus dem Westen, die alle eine handschriftliche Widmung für Wang Faliang tragen, den eingangs schon erwähnten Motorenfabrikarbeiter, der in der Synagoge die Museumspflege übernommen hat. „Meine jüdischen Freunde werden mehr und mehr“, wundert sich Wang über die späte Rückkehr der alten Nachbarn.

Nur an eines kann sich Wang nicht entsinnen: An deutsche Gäste in seiner Synagoge. „Ein paar Touristen vielleicht“, räumt der Kurator ein. Doch dann sucht er vergeblich nach deutschen Eintragungen im Gästebuch des Museums. Immerhin: Österreichs Präsident Thomas Klestil war im September 1995 hier. Mit den Worten „In ehrfürchtiger Erinnerung an das traurige, furchtbare Schicksal vieler Landsleute“ trug sich Klestil damals ins Gästebuch ein. Annähernd 6.000 Österreicher und 10.000 Deutsche lebten im Krieg in Hongkou. Wann aber wird ein deutscher Bundespräsident der jüdischen Mitbürger in China gedenken?