Bonn spielt weiterhin auf Zeit

Verhandlungen zwischen Kanzleramt und der Jewish Claims Conference blieben ohne konkretes Ergebnis. Kanzleramtsminister Bohl schloß individuelle Regelungen aus  ■ Aus Berlin Christian Semler

Berlin (taz) – Bei den gestrigen Verhandlungen zwischen Kanzleramtsminister Friedrich Bohl und einer Delegation der Jewish Claims Conference ging es in erster Linie darum, den überlebenden Opfern des NS-Regimes in Osteuropa, die bisher keinen Pfennig individueller Entschädigung gesehen haben, noch zu regelmäßigen Zuwendungen, zu einer minimalen Rente, zu verhelfen. Ergebnis: Nach wie vor lehnt Bonn monatliche Entschädigungszahlungen ab. Man wolle aber den Interessen der Opfer „näherkommen“. Was heißt „näherkommen“?

Jewish Claims fordert, die Härtefallregelung des sogenannten „Artikel 2“-Fonds auf Osteuropa zu übertragen. Im Rahmen dieses Abkommens hatte sich die Bundesregierung 1992 gegenüber der Jewish Claims verpflichtet, eine „Härtefallregelung“, eben den „Artikel 2“-Fonds, zu finanzieren. Er sollte diejenigen Opfer des NS- Regimes begünstigen, die daran gehindert gewesen waren, Zahlungen kraft der Entschädigungsgesetze der 60er Jahre oder der Härtefallregelung des Jahres 1980 zu beantragen. Aber die Zahlungen nach diesem Fonds waren an eine niedrige Einkommens- bzw. Rentengrenze gebunden und setzten eine nachweisbare Mindestdauer von Ghettoisierung bzw. KZ-Haft voraus. Das Abkommen wurde nie veröffentlicht.

In der Praxis trat anstelle der Entschädigung für erlittenes Unrecht endgültig der Fürsorgegesichtspunkt, wobei die Verteilung der Gelder der Jewish Claims Conference zugeschoben wurde. Jewish Claims wandte die vorgegebenen Kriterien strikt an und geriet damit prompt in die Kritik, die besser der deutschen Regierung gegolten hätte.

Vor allem aber wurden nach dem diesem Abkommen NS-Opfer mit Wohnsitz in Osteuropa von der Regelung ausgeschlossen. Dieser Ausschluß führte zu krasser Ungleichbehandlung, da bei ähnlichen Schicksalen letztlich der Wohnort des Antragstellers über den Ausgang des Verfahrens entschied. So geschehen im Fall der Brüder Bergmann, zweier lettischer Juden. Michael Bergmann, der in Münster lebt, erhält seit vier Jahren 500 Mark monatliche Unterstützung. Sein in Riga lebender Bruder Alexander geht leer aus. Um der deutschen Regierung dieses Ergebnis drastisch vor Augen zu führen, hatte Jewish Claims Alexander Bergmann gestern zum Verhandlungsführer der „Bohl- Runde“ bestimmt.

Die Bundesregierung hat bislang darauf verwiesen, daß sie mit einer Reihe ost- und südosteuropäischer Staaten Globalabkommen geschlossen habe. In deren Gefolge richtete man Stiftungen ein, die soziale Institutionen unterstützen und einmalige Zahlungen leisten. Im Fall Polens waren dies durchschnittlich nicht mehr als 500 Mark. In einigen Staaten, etwa in der Ukranine, sei der größte Teil der Gelder im Staatshaushalt „versickert“, so Ignatz Bubis.

Bislang hat es die Bundesregierung strikt abgelehnt, über diese einmaligen Zahlungen aus den Stiftungs- beziehungsweise Fondstöpfen hinaus individuelle Ansprüche auf Rentenzahlungen anzuerkennen. Viele der NS-Opfer etwa in Tschechien lehnen es ab, ihre letzten Tage in einem (von der BRD finanzierten) Altersheim zu verbringen. Abgesehen davon, daß sie Zweifel äußern, ob diese Heime vor ihrem Ableben fertiggestellt sein werden. „Näherkommen“ kann nach Meinung vieler Opfer deshalb nur heißen: individuelle, nicht auf ein einmaliges Almosen beschränkte Entschädigung.

Daß die Bundesregierung überhaupt den Forderungen von Jewish Claims „näherkommen“ will, verdankt sich nicht später moralischer Sensibilisierung, sondern außenpolitischem Druck. Das American Jewish Committee hatte eine Anzeige geschaltet, auf der ein SS- Mann und ein KZ-Opfer abgebildet waren und gefragt: „Raten Sie mal, welcher von beiden eine Rente bekommt.“

Drastisch spielte das Komitee damit darauf an, daß die Versorgung ehemaliger Kriegsverbrecher, vor allem die Renten für Witwen und Waisen prominenter Nazis, großzügig geregelt wurde, während die Opfer des NS-Regimes sich peinigenden Untersuchungen unterziehen mußten, ehe sie, wenn überhaupt, entschädigt wurden. Amerikanische Politiker hatten sich diesem Angriff kürzlich angeschlossen.