Evviva papa Giovanni

Italien erlebt eine Renaissance des Papst-Vorvorgängers und Reformers Johannes XXIII.  ■ Aus Bergamo Werner Raith

Die Bilder sehen fast alle aus, als hätte Vittorio D'Anna sie eben irgendwo vom Speicher heruntergeholt und nur notdürftig abgestaubt; jedenfalls ist auf einigen allerhand Fliegendreck drauf. Aber „was willste machen, das ist alles ja gerade jetzt passiert, wo alle in Urlaub sind“, sagt er. Kleine Fotos, große Gemälde, einige Reliefdrucke aus Plastik bietet er an – und alle haben nur ein Motiv: das Konterfei von Johannes XXIII.

Wo sonst nur baedekerbewehrte Touristen in die Kapelle schlurfen und das Grabmal des venezianischen Feldherrn Bartolomeo Colleoni begucken, sind nun, wie auch vor der Kirche Santa Maria Maggiore oder der Accadèmia Carrara und an der Piazza Matteotti, Verkäufer aufgetaucht, die ihren Kunden Bilder Johannes' XXIII. zeigen und zuraunen: „Der wird jetzt ruck, zuck heiliggesprochen!“

Das ist natürlich weit übertrieben, weil Rom dazu keinerlei Anstalten macht; aber daß der 1963 verstorbene Nachfolger Petri seit einigen Tagen plötzlich Hochkonjunktur hat, ist unbestreitbar. „Und das verdanken wir IHM, sagt Vittorio und deutet auf die Wochenendausgabe von la Repubblica: Da prangt Umberto Bossi, der unberechenbare Führer der separatistischen Lega Nord. Der hatte zwar wohl überhaupt nicht an Johannes XXIII. gedacht, als er am vergangenen Samstag eine wilde Attacke auf den derzeitigen Papst ritt, doch der Effekt war „fast so umwerfend wie eine minutiös geplante Public-Relations- Kampagne für den schon beinahe vergessenen Papst Johannes XXIII.“, meint anerkennend ein durchreisender Werbefachmann aus Padua.

Daß er in ein Wespennest stechen würde, dürfte Umberto Bossi, trotz seiner impulsiven, oft unreflektierten Art, durchaus klar gewesen sein: „Dieser polnische Papst“, hatte er gesagt, mit Betonung auf „polnisch“, „ist gegen die Menschen in der Poebene- Region.“ Und der Mann sei nicht nur ein „Garant dieses zentralistischen Regimes“, sondern auch der Dreh- und Angelpunkt des „Nationalklerikalismus“ und, alles in allem, „ein Bremsklotz für den Fortschritt in der Kirche“.

Die absehbaren Reaktionen stellten sich sofort zur Gänze ein: Alle, ausnahmslos alle politischen Kräfte Italiens scharten sich um den Papst, mit Ausnahme natürlich der Lega Nord (und einiger Vertreter Südtirols) – die meisten wohl nicht unbedingt, um den derzeitigen Chef des Katholizismus zu verteidigen, sondern weil sie einen erneuten Angriff des Sezessionisten auf die Einheit Italiens erkannten; daß Bossi mit dem Adjektiv „polnisch“ den rassistischen Akzent dazugesetzt hatte, kam den meisten gerade recht zum Losdreschen.

Auch eine Reihe von Gefolgsleuten Bossis ging in Deckung: Viele fanden das Sommertheater nicht gerade gut eingefädelt, wollen sie doch im September die von Bossi angesetzte Volksbefragung zur Abspaltung Oberitaliens von Rom auch mit Hilfe katholischer, aber mit dem politischen Zentrismus Italiens unzufriedener Kräfte zum Erfolg führen.

Doch neben der absehbaren Reaktion ist nun auch die von niemandem vorhergesehene eingetreten. „Normalerweise kommen hier alte Mütterchen und ein paar Touristen vorbei, kaufen sich eine Madonna, den Antonio von Padua oder eine Nachbildung des Doms“, berichtet Giancarlo Ermando, der Andenken aller Art in seiner Tabaccaia führt; doch seit dem Wochenende hat er eine „geradezu unvorstellbare Nachfrage nach Statuen und Bildern von Papst Johannes XXIII.“.

„Plötzlich taucht an jeder Ecke sein Bild auf“

Nach just jenem Papst also, der vor mehr als dreißig Jahren das II. Vatikanische Konzil ausgerufen und die katholische Kirche zu reformieren begonnen hatte – und den Johannes Paul II., der Antireformer, mit einem gewissen Erfolg in Vergessenheit geraten zu lassen versucht hat. „Plötzlich taucht an jeder Ecke sein Bild auf“, beobachtet auch Everardo Di Bello, Stadtpolizist aus Mailand, „eine merkwürdige Erscheinung in unserer sonst eher unheiligen Stadt“.

Auch aus Turin, wo normalerweise eher Teufelskulte und schwarze Messen das Irreale abbilden, tauchen die ersten Bilder des katholischen Oberhirten auf, den die Gläubigen trotz seines gerade mal ein halbes Jahrzehnt währenden Pontifikats zum „gütigen Papst“ ernannt haben.

Konservativen geht ein Schauer über den Rücken

Jahrzehntelang wurde das Andenken des Bauernsohnes aus der Gegend von Bergamo, mit bürgerlichem Namen Angelo Giuseppe Roncalli, fast nur noch von seiner Geburtsgemeinde durch die seit 1970 offizielle Bezeichnung „Sotto il Monte Giovanni XXIII.“ hochgehalten. Kam die Sprache im kirchlichen Rom auf ihn, lief vielen konservativen Kirchenführern ein Schauer über den Rücken: Der Mann hatte nicht nur versucht, die vorher allmächtige Kurie zu entmachten und den katholischen Laien starke Mitsprache bei Glaubensentscheidungen einzuräumen – er hatte die katholische Kirche auf eine schlichte Konfession zu reduzieren begonnen, auf eine Kirche neben anderen Religionsgemeinschaften, ohne den traditionellen Anspruch auf den einzigen Weg ins Paradies.

Insofern paßt Johannes XXIII. natürlich so ganz ins Konzept der separatistischen Lega Nord: Nicht nur, daß er selbst aus Oberitalien stammt – sein Konzept der Gleichberechtigung aller wird unversehens zum tragenden Pfeiler der Lega-Forderung, die politische Allmacht der italienischen Hauptstadt zu liquidieren. Rom, auch das nichtkirchliche, soll eben nur noch eine Regierung neben anderen auf italienischem Territorium darstellen.

Umberto Bossi, selbst ganz überrascht von diesem Effekt, hat Roncalli bereits zum „Herrn der Poebene“ ernannt, und Giancarlo Ermando hat alle seine Freunde mobilisiert, damit sie ihm bei der Massenherstellung von Johannes-XXIII.-Devotionalien helfen.

Eine kleine Fabrik im Hinterland von Padua wurde von Marien- auf Roncalli-Statuen umgestellt, Druckereien machen Überstunden, um die beliebten Profilfotos zu reproduzieren, mit besonderer Betonung des gütigen Gesichtsausdrucks von „Johnnie Walker“ (wie die Amerikaner den Papst wegen seiner nächtlichen, vom vatikanischen Hofstaat unbemerkten Spaziergänge durch Rom nannten).

„Das Erstaunliche daran“, berichtet ein gerade aus Rom zurückgekehrter Mitarbeiter des Kardinals Carlo Maria Martini aus Mailand, „ist vor allem, daß die Roncalli- Bilder plötzlich auch in Rom wieder große Konjunktur haben“: Als hätte jemand „einen lange angestauten Fluß plötzlich freigegeben“. Im Erzbischofspalast von Mailand gibt man dazu lieber keinen Kommentar, wie im übrigen auch zu den Angriffen Bossis auf Johannes Paul II. weder aus Rom noch aus Mailand eine kirchliche Stellungnahme zu hören war. Lediglich der Bischof von Como, der bis dato als Freund Bossis galt, wird mit der Bemerkung zitiert, man könne „mit derart ungehobelten Leuten einfach nicht diskutieren“.

Doch nun, so der Mailänder Kardinalsberater, „ist es auf einmal durchaus möglich, daß die Sache über Bossis dümmliche Polen- Desavouierung hinausschwappt und ganz plötzlich eine Frage der rechten Kirchenführung daraus wird“ – und dann werden sich Stellungnahmen auch von ganz oben kaum vermeiden lassen.

Vittorio D'Anna vor der Cappella Colleoni setzt jedenfalls voll auf den neuen Trend. „Und wenn der Kardinal Martini in Mailand schlau ist, unterstützt er nun die Lega-Bewegung endlich stärker“, sagt er schlitzohrig. Denn: „Das Handikap Martinis bei der Papstwahl ist, daß er Italiener ist und das Konklave auf keinen Fall einen Italiener wählen wird, wenn Wojtyla mal tot ist. Doch wenn bis dahin Oberitalien ein selbständiger neuer Staat ist, wäre Martini ja gar kein Italiener mehr...“

Fraglich, ob Martini auch so denkt. Doch klar dürfte auch in den Oberetagen der Kirche sein, daß die unvermittelte Neubelebung des Andenkens von Johannes XXIII. so etwas wie die endgültige „Götterdämmerung“ der Ära Karol Wojtyla eingeleitet hat – mehr als seine Krankheiten, von denen er sich ja immer wieder erstaunlich gut erholt hat.