■ Dokumentation
: „Ich möchte die Gelegenheit nutzen, meine Sorge zu äußern“

Herrn Hodschatoleslam

Sayyed Mohammad Chatami

Amt des Staatspräsidenten der Islamischen Republik Iran

Exzellenz,

anläßlich Ihres Amtsantrittes als Staatspräsident der Islamischen Republik übermittle ich Ihnen meine herzlichsten Glückwünsche. Ihr überwältigender Sieg bei den Präsidentschaftswahlen am 23.Mai hat mich – und ich glaube sagen zu dürfen: alle Islamwissenschaftler, Iranisten und Freunde des Irans in meiner Heimat – mit größter Freude erfüllt [...]

Ich möchte Ihnen meinen Dank dafür aussprechen, daß Sie den Mut aufgebracht haben, trotz zahlreicher Widerstände an Ihren Positionen festzuhalten. Mit Ihren Äußerungen zur zivilen Gesellschaft, zu der Beachtung rechtsstaatlicher Prinzipien, der Bewahrung der Menschenrechte, der Beteiligung aller Bürger an der politischen Willensbildung und der Toleranz im Umgang mit anderen Religionen sowie den religiösen Minderheiten im eigenen Land haben Sie Millionen Menschen innerhalb und außerhalb Irans aus dem Herzen gesprochen. [...]

Es dürfte Sie nicht überraschen, daß ich mich persönlich besonders über Ihre Stellungnahmen zur Stellung der Frau gefreut habe. Seit Jahren bemühe ich mich, die westliche Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, daß der Islam nicht die Unterdrückung der Frauen predigt. Wenn es Ihnen gelänge, die gesellschaftliche und rechtliche Lage der Frauen in Iran den islamischen Idealen anzunähern, würden viele westliche Vorurteile über den Islam aufhören zu existieren.

[...] Ich möchte die Gelegenheit nutzen, meine Sorge über das Schicksal zweier verdienter Intellektueller Ihres Landes zu äußern. Wie zu hören ist, darf Herr Dr. Abdolkarim Sorusch gegenwärtig nicht das Land verlassen. Auch ist es ihm nicht möglich, an einer Universität zu lehren.

Darf ich Sie bitten, Ihren Einfluß geltend zu machen, damit Herr Sorusch, den ich als weitblickenden Denker und mutigen Verteidiger des Islams kennengelernt habe, seine bürgerlichen Rechte wiedererlangt und vor allem wieder an einer der Universitäten des Landes unterrichten darf. Es paßt nicht zu Kulturnationen wie der Ihren, daß ein Denker von seinem Range mit Repressalien bedacht und von der akademischen Welt ausgeschlossen ist.

Die zweite Person, auf die ich Sie aufmerksam machen möchte, ist der iranische Publizist Farradsch Sarkuhi. Seit einigen Monaten schon befindet er sich in Haft. Seine Familie weiß weder, in welchem Gefängnis er sich aufhält, noch ob er Kontakt zu einem Anwalt hat. Es ist noch nicht einmal klar, ob der Prozeß gegen ihn schon begonnen hat und wie die Anklage lautet. In einem Brief vom Januar schilderte Herr Sarkuhi, wie er vom iranischen Geheimdienst festgehalten und zu Falschaussagen und Geständnissen gezwungen wurde.

Verehrter Herr Staatspräsident, Sie haben in Ihrem Wahlkampf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit betont. Was immer man Herrn Sarkuhi vorwirft, so hat er doch, soweit mir bekannt ist, auch nach dem iranischen Gesetz Anspruch auf Kontakt zu seiner Familie und einem Anwalt seines Vertrauens sowie auf einen öffentlichen Prozeß in Anwesenheit von unabhängigen Prozeßbeobachtern. Ich möchte Sie deshalb bitten, sich dafür einzusetzen, daß Herr Sarkuhi baldmöglichst freigelassen wird oder die Vorwürfe gegen Herrn Sarkuhi zumindest im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens behandelt werden. Angesichts der internationalen Aufmerksamkeit, die der Fall genießt, wäre die Anwesenheit von Prozeßbeobachtern aus dem In- und Ausland gewiß im Interesse aller Beteiligten. Wie der heilige Koran sagt: „Und wer einen Menschen am Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten.“ [...]

Hochachtungsvoll

Ihre Annemarie Schimmel

Aus dem Persischen

von Navid Kermani