Kündigungsschutz auf Warteliste

■ Arbeitsgericht überlastet / 650 Fälle bearbeitet ein Richter pro Jahr - Sühnetermine nach acht Monaten, Prozesse dauern Jahre

25 Jahre arbeitete Renate D. in dem kleinen Betrieb, war die Seele des Betriebs. Dann übernahm der Sohn die Geschäfte. Kein Tag mehr ohne Streit seitdem, die Spannungen nahmen zu, schließlich kam die Explosion: Renate D. wird Knall auf Fall nach 25 Jahren entlassen. Die Begründung: Entwendung von Geschäftsunterlagen.

Ein Fall unter exakt 5.019 anderen im Jahr 1996, die vor dem Arbeitsgericht landeten. Tendenz steigend. 1995 waren es noch 4.700 Fälle – bei gleichbleibender Richterzahl seit Jahrzehnten, so der Personalratsvorsitzende Reinhard Botjak. Und mit der Zahl der Fälle steigt die Wartezeit.

Die von Renate D. zum Beispiel. Sie erhebt Kündigungsschutzklage. Der Vorwurf sei absurd, sagt sie, sie habe die Unterlagen nur zur Bearbeitung mit nach Hause genommen – das habe sie doch immer so gemacht. Vorerst aber liegt ihre Akte im Arbeitsamt. Und liegt. Und liegt. Rund 650 Fälle muß ein Arbeitsrichter im Schnitt pro Jahr bearbeiten. „Bis zu zehn Wochen müßte Renate D. warten“, sagt der Anwalt Wenzel Jerke, „solange dauert es heute, bis es auch nur zur Güteverhandlung kommt.“Denn die Mühlen des Arbeitsgerichts mahlen zusehends langsamer.

Vor allem weil die Kündigungsfälle rapide zugenommen haben. 63 Prozent aller Eingänge beim Arbeitsgericht betrafen im vergangenen Jahr Entlassungen. Auch hier: Tendenz ständig steigend. Vor ein paar Jahren, so Reinhard Botjak, habe man sich zumeist noch gütlich geeinigt – „Da wurde ein Scheck ausgehändigt und fertig! Und heute?! Da kämpft doch jeder um seinen Arbeitsplatz.“

Auch Renate D. einigte sich nicht mit ihrem jungen Chef. Dieser beharrte auf seiner fristlosen Kündigung; eine Rechtsschutzversicherung hielt ihm den Rücken frei. Renate D. ihrerseits konnte sich auf Grund einer Prozesskostkostenbeihilfe den langen Atem leisten. Den braucht sie denn auch am Bremer Arbeitsgericht. „Wir sind hier in ständiger Hektik“, schildert Reinhard Botjak den Alltag. „Ich arbeite hier mit einem sehr flotten Richter zusammen. Trotzdem sind wir bis zum 9. März 1998 total ausgebucht. Mit fünf Verhandlungen täglich – im Ein-Stunden-Rythmus“. Renate D. darf inzwischen weiter stempeln gehen. Und ihr Chef hat seinen Betrieb längst umstrukturiert. Selbst wenn sie im nächsten Jahr den Prozess gewönne – ihren Arbeitsplatz findet sie nicht wieder. ritz