Immer locker am Stau vorbei

Autofahrer, die neue Informations- und Leitsysteme nicht nutzen, sind selbst schuld – meinen die Hersteller. Vermieden wird Autoverkehr so nicht  ■ Von Weert Canzler

In Zukunft macht Autofahren wieder Spaß, verkündet die Telekom-Tochter T-Mobil in einer großangelegten Anzeigenkampagne für ein Produkt, das Ende des Jahres auf den Markt kommen wird. Das Produkt ist ein individuelles Verkehrsleit- und Informationssystem. Dieser Markt boomt, und die Telekom ist nicht der einzige und schon gar nicht der erste Anbieter, der die AutofahrerInnen mit dem Versprechen lockt, dank informationstechnischer Zusatzapparate dem Stau ein Schnippchen zu schlagen.

Als erster Autohersteller auf dem deutschen Markt bietet Opel ab dem Herbst ein eigenes individuelles Lotsensystem unter dem Produktnamen Onstar an. Auf der Basis der Satellitenortung Global Positioning System (GPS) und Mobiltelefon soll der Kunde oder die Kundin tariflich normierte Informationen zur persönlichen Verkehrslage und zur Routenplanung erhalten. Pannen- und Unfallhilfe ist ebenso möglich wie später zusätzliche Dienstleistungen wie das Buchen von Hotelzimmern oder Flug- bzw. Bahntickets. Für 1998 plant Opel den Verkauf von 60.000 Stück mit einem Umsatz von mehr als 100 Millionen Mark.

Daimler-Benz hat vor einigen Wochen in Tokio testweise ein Kfz-Navigationssystem auf den Markt gebracht, das „Intelligent Traffic Guidance System“. Es arbeitet ebenfalls mit elektronischen Straßenkarten, GPS und Mobilfunk. Solche elektronischen Assistenten sind nicht ganz billig. Die Hardware kostet den japanischen Mercedeskunden etwa 5.000 Mark. Die Betriebskosten belaufen sich auf monatlich 45 Mark sowie für die aktuelle Routenabfrage etwa 20 Pfennig Telefongebühren.

Kurz vor der Einführung steht ein Verkehrsinformationsdienst von Mannesmann, der härtesten Telekom-Konkurrenz. Die Mobilfunkbetreiber sind dabei, eine Datenbasis aufzubauen, die unabhängig von den bisherigen Verkehrsinformationsanbietern ist. Mannesmann-Mobilfunk hat jüngst für diesen Zweck eine eigene Gesellschaft, die Autocom, gegründet, die zunächst in einem Testgebiet in Nordrhein-Westfalen eigene Verkehrserhebungen organisiert, um Daten und Erfahrungen über den Verkehrsfluß und die Qualität der erhaltenen Informationen zu gewinnen. Zugleich sind Autocom und Deutsche Telekom ein Joint- venture eingegangen, um gemeinsam Verkehrsdaten auf Bundesstraßen und Autobahnen zu erfassen. Eine mühsame Kooperation mit der Polizei oder den Rundfunkanstalten soll so vermieden werden.

Die Telekom hat zunächst die gewerbliche Kundschaft im Auge, für die sie ein Logistik-Informationsangebot macht. Danach will sie einen individuellen Verkehrsinformationsdienst einführen, der ähnlich wie die Mannesmann Autokom auf der Erhebung eigener Daten und auf der Mitwirkung von Mobilfunk-Kunden beruht. Versprochen wird ein stündliches Update der auf einer CD-ROM gespeicherten Routeninformationen, ergänzt durch aktuelle Verkehrsinformationen über Unfälle, Staubbildungen, Geisterfahrer etc. via Mobilfunk.

Die Telekommunikationsanbieter investieren erheblich in die Entwicklung neuer sogenannter Add-on-Dienstleistungen im Verkehrsbereich, weil sie sich davon Wettbewerbsvorteile in der schärfer werdenden Konkurrenz auf dem Telekommunikationsmarkt versprechen. Die individuellen Verkehrsinformations- und Leitsysteme werden infolgedessen nicht nur schnell allgemein verfügbar und billiger sein, sie haben vor allem auf der Nutzungsseite eine weitreichende Konsequenz: Sie delegieren unter der Hand die Verantwortung für Dysfunktionalitäten des Straßenverkehrs auf die einzelnen Verkehrsteilnehmer. Denn wer wollte, könnte doch unter der Voraussetzung von Echtzeitinformationen zur Verkehrslage den Stau vermeiden. Dies erhöht – ob tatsächlich oder nur vermeintlich, ist zweitrangig – die Handlungsoptionen für das Autofahren. „Warum sollte sich ein potentieller Verkehrsteilnehmer, dessen Pkw vor dem Haus steht, für Bus und Bahn entscheiden, wenn doch sein gekaufter Bordcomputer verspricht, ihn individuell um Baustellen, Staus oder Unfälle herumzuführen?“ fragt der Verkehrswissenschaftler Heinz Klewe.

Der individuell und frühzeitig über den sich aufbauenden Stau informierte Autofahrer hat die Chance, eine vom Leitsystem vorgeschlagene Alternativstrecke zu wählen. Die vorab vom Stop-and- go-Verkehr in Kenntnis gesetzte Autofahrerin könnte sich das wahrscheinliche Verkehrsaufkommen auf der avisierten Route zu anderen Tageszeiten ausrechnen lassen und sich dann entscheiden, ob ein Reiseaufschub lohnt. Damit werden mögliche Dysfunktionalitäten des Autoverkehrs aufgelöst und in den individuellen Verantwortungsbereich des Nutzers und der Nutzerin geschoben.

Autofahren hieß von Anfang an autonome Fortbewegung. Diese automobile Identität wird durch den Einsatz individueller Informationssysteme verstärkt bzw. revitalisiert. Diese Verschiebung und Individualisierung von Verantwortung für das Funktionieren des hochgradig anfälligen Straßenverkehrs ist von größerer Bedeutung als alle tatsächlichen Effizienzgewinne, die durch den Einsatz von Verkehrstelematik erreicht werden können. Sie entlasten sowohl die Automobilhersteller als auch den Staat, die bisher von den Nutzern und der Öffentlichkeit in die Pflicht genommen werden, für die Funktionsfähigkeit des Autoverkehrs zu sorgen.

Individuelle Verkehrsleit- und Informationssysteme haben zudem in einer zweiten Hinsicht weitreichende Auswirkungen auf das bisherige Nutzungsgefüge des Automobilverkehrs. In Kombination mit dem Aufbau privater und buchbarer Parkplatzkapazitäten führen diese Systeme zu einem Zweiklassensystem in der Autonutzung. Diejenigen, die sich persönliche Verkehrsinformationen via Satellitentechnik und Mobilfunk und teure private Parkplätze leisten (können), vermeiden sowohl die ärgerlichen Staus als auch den überflüssigen Parksuchverkehr. Die anderen müssen sich mit ihrer persönlichen Streckenerfahrung und der Grundversorgung des Autoradios zufriedengeben und sich in die Schlange der Parkplatzsuchenden einreihen. Und wenn die erste Gruppe zu groß werden sollte und daher mit neuen Störungen gerechnet werden muß, greift vermutlich schnell der Mechanismus der Preisbildung durch Knappheit: Wer am meisten zahlt, erhält am schnellsten die besten Informationen. Der bisherige – im großen und ganzen – egalitäre Massenautomobilismus wird dann von einem hierarchischen System der Autonutzung abgelöst. Der „demokratische Stau“ wird der Vergangenheit angehören.