Zwangssterilisation im Wohlfahrtsstaat

Bis in die 50er Jahre hinein wurden in Schweden rund 60.000 Menschen unfruchtbar gemacht  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

„Ich schäme mich nicht. Andere haben sich zu schämen, wenn jetzt bekannt wird, was ich zu erzählen habe.“ Maria Nordin, 72 Jahre, berichtet von ihrem Leben, das in einem armen Elternhaus mit sechs Geschwistern begann. „Ich war furchtbar schüchtern, als ich in die Schule kam, traute mich nichts zu sagen. Hatte einen Sehfehler, war kurzsichtig, sah nicht, was an der Tafel stand. So kam ich auf die Sonderschule.“

Die Sonderschule im Schweden der dreißiger Jahre war eher eine geschlossene Anstalt. Man durfte nicht ungefragt reden, nicht lachen. Wer sich nicht an die Regeln hielt, landete mit Fußfessel in der Isolierzelle. Während der Schulzeit durfte man nicht nach Hause. Maria nicht einmal zur Beerdigung ihrer Mutter. „Eines Tages, als ich 17 war, kam die Rektorin. Ich solle in ihr Büro kommen, ein Papier unterschreiben. Ich wußte, was das war, rannte zur Toilette, schloß mich ein und weinte. Wir Mädchen hatten schon darüber geredet. Alle wußten, daß das kam. Und auch ich unterschrieb, sonst wäre ich da nie herausgekommen.“

Was Maria mit 17 und ohne daß ihre Familie etwas wußte, unterschrieb, war das Einverständnis zur Sterilisation. Sie wurde noch am gleichen Tag ins Krankenhaus gebracht, „dort haben sie alles herausgenommen“. Der Arzt, „Dr. Ingvarsson, ich werde den nie vergessen, sagte: Ihr seid nicht klug im Kopf, daher dürft ihr keine Kinder haben.“ Nach der Sterilisation durfte sie die Sonderschule verlassen. Kam erst als Magd zu einer Bauernfamilie, wo sie bald den gesamten Haushalt führte, heiratete, als Köchin und im Krankenhaus arbeitete. Maria war eine von Tausenden Sonderschülerinnen, die so sterilisiert wurden. Medizinalrat Karl Grunewald, als junger Arzt selbst einer der Schulärzte, die mit dem Rektor, dem Lehrer, nie aber im Beisein der Mädchen selbst oder jemand aus ihrer Familie, so im Rektorsbüro saßen und über Zwangssterilisationen entschieden. „Es ging allein um die Frage, ob ein Mädchen aus ,einem ordentlichen Heim‘ kam, selbst ,Verantwortung übernehmen‘ konnte.“ Wenn nicht, habe das Mädchen zwangssterilisiert werden müssen.

Grunewald hatte seit den fünfziger Jahren gegen dieses Gesetz gekämpft, das dann erst 1976 abgeschafft werden sollte. Laut einer von ihm angefertigten Studie waren in den vierziger und fünfziger Jahren rund zwei Drittel aller Mädchen, die eine Sonderschule besuchten, zwangssterilisiert, wenn sie diese verließen. Nicht dagegen die Jungen. Alle SonderschülerInnen bekamen darüber hinaus ein Eheverbot ins Kirchenbuch geschrieben. Weigerten sich Mädchen oder Eltern, der Sterilisation zuzustimmen, drohte eines der gefürchteten Arbeitslager und Entzug von Sozialleistungen. Die Sterilisation von Sonderschülerinnen war wiederum nur ein Teil eines Zwangssterilisationssystems, von dem in Schweden zwischen Mitte der dreißiger und Mitte der fünfziger Jahre 60.000 Menschen betroffen waren, 95 Prozent davon Frauen. Platz zwei hinter den Massensterilisationen Nazideutschlands. Begonnen hatte alles im Namen des „Volkswohls“. Staatliche Eingriffe zur „Verbesserung der Bevölkerungsqualität“ waren ursprünglich eine US-amerikanische Erfindung. In mehreren US-Teilstaaten, zuerst 1907 in Indiana, wurde ein Gesetz zur Zwangssterilisation von „Schwachsinnigen“ und anderen, deren Fortpflanzung „unangebracht“ sei, eingeführt. Selbst wenn Diskussionen um „minderwertige Rassen“ zu Beginn dieses Jahrhunderts in weiten Teilen der Welt geführt wurden, fielen sie nirgends auf so fruchtbaren Boden wie in Skandinavien und Deutschland. Schweden wiederum hatte in diesem Szenario eine Vorreiterrolle. Das 1921 gegründete „Staatliche Institut für Rassenbiologie“ in Uppsala war das weltweit erste seiner Art und Vorbild für das „Kaiser-Wilhelm-Institut für Rassenhygiene“ in Berlin. Aus Uppsala kamen die Schautafeln, auf denen man unterscheiden konnte, wie ein „rassenreiner“ Schwede auszusehen hatte und wie „minderwertige“ Menschen. Auch wenn die Nachbarländer Dänemark (1929) und Norwegen (1934) Schweden in der Zwangssterilisationsgesetzgebung zuvorkamen, war es doch hier, wo das 1935 erlassene und 1941 massiv verschärfte Gesetz am umfassendsten Anwendung fand. Und ohne jeglichen Widerstand das Parlament passierte.

Waren es in Deutschland die Faschisten, so in den skandinavischen Ländern die sozialdemokratischen Parteien, die den größten Eifer zeigten, die Bevölkerung von „rassen- oder erbmäßig minderwertigen Elementen“ – so eine sozialdemokratische Gesetzesvorlage Mitte der zwanziger Jahre – zu „reinigen“. Doch im Gegensatz zu den Rassegesetzen in Deutschland sucht man in den skandinavischen Gesetzen vergeblich nach antisemitischen Anklängen.

In Dänemark begründet die treibende Kraft hinter einer Gesetzgebungsinitiative zu Beginn der zwanziger Jahre, der spätere Gesundheitsminister Steincke, die Notwendigkeit staatlichen Eingriffs damit, weil es doch unökonomisch sei, minderwertige Erbmasse sich fortpflanzen zu lassen. Der norwegische Sozialdemokrat Johan Scharffenberg definiert als Ziel seiner Partei nicht nur die Verbesserung der Lebensumstände der Menschen, sondern gleichzeitig die „Reinigung von deren Erbmasse durch eine rationale Fortpflanzung“. Innerhalb von zwei bis drei Jahrzehnten wurden unter diesem Vorzeichen in Dänemark 6.000, in Norwegen – hier die verschärfte Praxis unter dem Quisling-Regime eingerechnet – 40.000 und in Schweden 60.000 Menschen zwangssterilisiert.

Der ausbrechende Zweite Weltkrieg stört die gute Zusammenarbeit zwischen den Rassenbiologen aus Deutschland und Schweden keinen Deut. 1941 wird die Sterilisierungsgesetzgebung verschärft. Die sozialdemokratische Regierung Hansson will neben „erblich belasteten“ auch „asoziale Lebensweise“ treffen. Der Justizminister spricht von einer „Sanierung des schwedischen Volksstamms“. Es geht nicht mehr nur um Erbanlagen, sondern um Kosten für die Volkswirtschaft, die man durch einen einfachen chirurgischen Eingriff senken kann.

1945 setzt Schweden einen neuen Zwangssterilisationsrekord mit 1.747 Operationen. Die Verbrechen, die in Deutschland unter dem Namen von Rassenpolitik begangen wurden, scheinen an Schwedens Sterilisationspolitik spurlos vorüberzugehen, wenn es in einer Behördenakte von 1946 über eine 28jährige verheiratete Mutter heißt: „Mischtyp, dunkel, typisches Tatarenaussehen. Gesund und kräftig. Scheint unbegabt, uninteressiert an allem, was nicht sie oder ihre Familie angeht. Intelligenz einer 15jährigen. Grund für Zustimmung zur Sterilisation: unübersehbarer Tatareneinschlag, Psychopathie, zigeunerhaftes Leben, asoziale Lebensart.“

1948 wurden 2.264 Personen in Schweden sterilisiert. Erneuter Rekord. Eine Änderung in der Praxis bahnt sich erst zu Beginn der fünfziger Jahre an, nachdem die Unesco den Rassenbegriff 1950 offiziell verdammt hat.

Obwohl nahe Vergangenheit, ist das Thema in Skandinavien tabu. Der Journalist Maciej Zeremba, der es in der Stockholmer Tageszeitung Dagens Nyheter aus Anlaß einer in Kürze erscheinenden Doktorarbeit zum Thema vor einigen Tagen in einer Artikelserie aufgriff, durchsuchte alle führenden Nachschlagwerke, sozialdemokratische Parteigeschichten und die Schulbücher nach dem Thema. Vergeblich.

Weil Tabuthema, gab es nie den Versuch staatlicher Wiedergutmachung. 30 Betroffene haben einen Schadenersatzantrag gestellt, 16 bekamen diesen von Stockholm genehmigt. Höchstbetrag: umgerechnet 10.000 Mark. Analog des Gesetzes zur Regulierung von Straßenverkehrsschäden, weil ein Sondergesetz fehlt.

Maria Nordin hat im vergangenen Jahr einen Antrag gestellt. Er wurde von Sozialministerin Margot Wallström abgelehnt, weil in ihrem Fall kein formaler Fehler gemacht worden sei – und nur dann könne es Entschädigung geben. Das neu erwachte Interesse der Öffentlichkeit am Thema könnte nicht nur für Maria Nordin zumindest daran etwas ändern: Sozialministerin Wallström hat ihre Meinung geändert und gerade versprochen, das Thema innerhalb der Regierung neu zu diskutieren.

Plötzliche und Jahrzehnte verspätete Einsicht eines sozialdemokratischen Kabinettmitglieds: „Wir haben da Teil an einer kollektiven Schuld. Das war Barbarei. Schadenersatz ist da wohl das mindeste, was wir tun können.“