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: Der Politiker sei Geist!

■ Fromme Wünsche und hoher Ton: Essayistik zwischen Philosophie und Literatur

Daß Walter Benjamin einer der größten Essayisten gewesen ist, bezweifelt heute wohl niemand mehr; gleichwohl fehlte bislang eine Analyse, die weniger die Gehalte seines Denkens als vielmehr die Eigentümlichkeiten seines Stils aufgedeckt hätte. Sigrid Weigel leistet nun in ihrer Studie „Entstellte Ähnlichkeit – Walter Benjamins theoretische Schreibweise“ genau dies. Es geht ihr um die Art und Weise, in der Benjamin dachte und analysierte, um Verfahrensweisen im Umgang mit dem Material von Geschichte und Kultur.

Benjamins Schriften werden hier als herausragendes Beispiel des Versuchs gelesen, den Abstand und Widerstreit zwischen akademischem Diskurs und Literarizität zu verringern. Denn das, was bei Benjamin zur Sprache kommt, ist mit dieser Sprache untrennbar vermittelt; die Figurationen seiner Denkbilder können, so Weigel, „in keinen Begriff bzw. Metadiskurs mehr übersetzt werden“. Weigel führt den überzeugenden Nachweis, wie bei Benjamin aus den Spannungen zwischen poetischer Sprache und begrifflichem Metadiskurs eine eigene Schreibweise gewonnen wird: gleichsam ein Drittes jenseits des Gegensatzes von Literatur und Philosophie – und dieses Dritte ist es, was, ganz allgemein gesagt, den Stil literarischer Essayistik ausmacht.

Eines der berühmtesten Beispiele dieser Gattung sind Heinrich Manns fulminante Essays „Geist und Tat“, jetzt erstmals seit 1931 wieder in ihrer ursprünglichen Zusammenstellung lieferbar. Manns Arbeiten zu französischen Autoren wie etwa Hugo, Flaubert oder Zola, die als Vorbilder für deutsche Literaten der erstarrten Wilhelminischen Ära interpretiert werden, speisen sich aus der Kraftquelle folgenden Zitats: „Politik und Literatur hatten denselben Gegenstand, dasselbe Ziel und mußten einander durchdringen, um nicht beide zu entarten. Geist ist Tat, die für den Menschen geschieht, und so sei der Politiker Geist, und der Geistige handele!“

Daß der Politiker Geist sei, war schon zu Heinrich Manns Zeiten eher frommer Wunsch denn Wirklichkeit. 1934 machte ein anderer, bedeutender Schriftsteller und Essayist folgende Bemerkungen, deren Aktualität jeden anspringen dürfte, der sich überhaupt noch für literarische Wirklichkeitsbewältigung interessiert: „Eine eigentümliche Verachtung des Wortes, ja beinahe Ekel vor dem Wort hat sich der Menschheit bemächtigt. Die schöne Zuversicht, daß Menschen einander durch das Wort, durch Wort und Sprache überzeugen könnten, ist radikal verloren gegangen; parlare hat einen schlechten Sinn erhalten, die Parlamente gehen an ihrer eigenen Abscheu vor ihrer parlierenden Tätigkeit zu Grunde.“ Der Autor dieser Zeilen ist nicht etwa Botho Strauß, dem eine solche Botschaft heute sehr nahe wäre. Der Autor ist Hermann Broch, und der Titel seines Essays lautet „Geist und Zeitgeist“.

Über Botho Strauß wird viel gestritten; daß er, wie immer man seine kulturkritischen Befunde werten will, ein scharfer Analytiker unserer Gegenwart, vor allem auch des Sprachverfalls unserer Gegenwart ist, wird man nicht bestreiten können. Sein Buch „Beginnlosigkeit“ von 1992, das bei Erscheinen wenig Aufsehen erregte, ist jetzt auch als Taschenbuch erhältlich, und ich möchte es empfehlen. Hier wird nämlich unter anderem darüber nachgedacht, wie literarische Sprache zeitgenössisch relevant sein kann, ohne modisch zu werden, wie umgekehrt Sprache, ohne anachronistisch zu sein, Traditionen aufbewahrt. Klaus Modick

Hermann Broch: „Geist und Zeitgeist“. Suhrkamp, 18,80 DM

Heinrich Mann: „Geist und Tat“. Fischer TB, 26,90 DM

Botho Strauß: „Beginnlosigkeit“. dtv, 14,90 DM

Sigrid Weigel: „Entstellte Ähnlichkeit“. Fischer TB, 18,90 DM