Unglaublich ranzige Hostie

Soziale Plastik oder Terror? Wie es zum einzigen Eklat mit der Polizei auf der documenta kam  ■ Von Christoph Schlingensief

Die Biennale Berlin hatte meine „Schlacht um Europa“ gesehen und gefunden, das wär' was für die documenta. Nicht als Theaterskizze, wie die Sachen von Marthaler oder Simon, sondern als „Medienlabor“. Wir waren also am Samstag morgen in Kassel, um 48 Stunden für Deutschland zu überleben. Wir haben Sandsäcke vor der Orangerie abgeladen. Wir haben hier drin die Kommune eröffnet, die Kommune 10, und wir haben da gegessen und getrunken und Versatzstücke einiger meiner Berliner Inszenierungen gemacht, unter anderem auch von „Rocky Dutschke, 68“ oder „Schlacht um Europa“. Feldbetten, Luftmatratzen, Eßtisch, Küchenteil, Videoprojektion. Wir haben Camouflage-Uniform getragen, ich hatte eine Dutschke-Perücke auf.

Leben wie Arbeitslose, unsichtbar, unauffällig

Die Idee war, für sechs Millionen Arbeitslose etwas zu machen, mal so zu leben wie die, von Gerüchten leben, unsichtbar sein. Mir graut eigentlich vor dem Wort „Kunstaktion“, aber ich glaube, Arbeitslosen bleibt nichts anderes übrig, als sich selber zum Kunstwerk zu erklären, damit sie überhaupt noch irgendeine Funktion haben. Es sollte eine Tabernakel-Situation sein, der Raum nach außen abgeschirmt, ein Kriegszustand sollte hergestellt werden.

Das war auf „Living Theatre“ angelegt, die Leute sahen uns frühstücken, Marmelade aufs Brötchen streichen, steckten sich selber Kippen an, schliefen da ein, mal dreißig Leute, mal hundert, haben kleine Zerstörungen vorgenommen, Bücher mitgenommen oder welche dagelassen und so weiter.

Viele haben uns gesagt, neben dem Schweinepavillon von Rosemarie Trockel und Carsten Höller wäre unsere Aktion das einzige gewesen, was auf der documenta noch wirklich lebendig war. Die Idee war unter anderem auch, die verfransten Kunstapostel, die da rumlaufen mit ihren Katalogen, zum Lachen zu bringen. Die Pressereaktionen in den letzten Tagen waren auch bemerkenswert: Noch nie hat so oft „Tötet Helmut Kohl“ irgendwo gestanden, das macht denen wahrscheinlich sogar Spaß. Und Catherine David war total begeistert. Das ist ja sonst eher eine unterkühlte Dame, aber zu uns kam sie öfter und hat sogar abends mit uns zusammengesessen. Das macht sie nicht oft! Auch Mike Kelly war da. Da wird doch gleich eine „soziale Plastik“ draus.

Durch den Einsatz der Polizei wird die ganze Aktion von diesem „Living Theatre“-Aspekt weg wieder in diese Provo-Schiene gelenkt. Es standen mehrere Schilder vor der Orangerie, auf einem stand „Fäkieren Sie auf die Deutschland-Fahne“ und auf einem anderen eben „Tötet Helmut Kohl“. Das muß man sich im Sinne von Bretons Bemerkung denken, daß die surrealistische Tat ist, in die Menge zu schießen. Wir alle sind Helmut Kohl, also sind wir alle mit dieser Menge gemeint. Es war doch nicht so, als wäre diese Bemerkung ein Mordaufruf, Teil einer politischen Rede: weil Kohl das und das gemacht hat, muß er getötet werden. Mehr so symbolisch: wer die Arbeitslosen wegrationalisiert, und das gilt für alle Politiker, muß eben damit rechnen, selbst wegrationalisiert zu werden. Aber wie gesagt: Der Spruch ist Teil einer Kunstaktion.

Zwei Polizisten kamen an: Wer ist der Verantwortliche. Ich habe gesagt: Catherine David. Dann wollte einer die Plakate mitnehmen. Ich habe gesagt, die können Sie nicht mitnehmen, die gehören zum Kunstwerk. Da wollte er mich anzeigen. Als ich dann sagte: Gut, zeigen Sie mich an, aber dann sind Sie Teil der Kunstaktion, da haben alle gelacht und sind abgezogen.

Werner Schütz las Joyce vor, ich zeigte Filme mit Mutter und Vater am Strand von Norderney, und nachdem die Polizei erst mal wieder weg war, hat Kerstin dann von der DDR erzählt. Als sie fertig war, skandierten dann alle „Tötet Helmut Kohl“, das war aber ein Gesangsstück.

Dann kam plötzlich Hundegebell, ein Schäferhund ohne Maulkorb stürmte rein, dann zeigte einer in Zivil auf mich, die Polizisten gingen auf die Bühne, haben mir die Hände auf den Rücken gedreht und nach oben und uns beide, Werner Schütz und mich, an die Wand gestellt. Beine auseinander, abklopfen, Handschellen, dann wurden wir die ganze Orangerie entlanggeführt. Der Hund hat die Popsängerin Ha Na Yo gebissen.

Die documenta-Leitung war nicht angerufen worden, die wußten von nichts. Dann ging's rüber zum Polizeiauto, zuerst konnten sie ihre Schlüssel nicht finden. Einer gestand mir dann freundlich: Am liebsten würde ich dir die Nase platthauen. Im Auto habe ich stillgesessen. Auf dem Revier dann hieß es erst mal sitzen, warten. Man nahm mir dann die Handschellen ab, und es entwickelte sich ein Gespräch.

Ich hatte den Eindruck, die denken, ein Neonazi oder ein Linksfaschist oder so was haben sich auf der documenta eingeschlichen. Ich wurde dann gefragt, was ich mir vorstelle, da sage ich: „Das war eine Kunstaktion.“ Sagt er: „Das soll Kunst gewesen sein? Das wüßte ich aber.“ Der Beamte hat mir dann noch erzählt, daß es eine sehr gefährliche Zeit sei für Kohl und für solche Aktionen. Aus dem Nebenzimmer kam einer mit meinem Strafregister, knallte das auf den Tisch und sagte „negativ“, also es lag nichts gegen mich vor. Dann war erst mal Ruhe im Karton.

Der Ton war dann auch versöhnlicher: Wir müssen schließlich handeln, wenn sich die Bevölkerung beschwert. Der Kaffeehausbesitzer von nebenan soll sich beschwert haben und eine alte Dame, die mal reinkam und sagte, wir sollten leiser machen. „Sie müssen mich auch verstehn“, sagte mir der Beamte, „ich muß an meine Familie denken.“ Da habe ich gesagt: „Ich hätte auch gerne Familie.“ Das war's dann eigentlich.

Die Polizei schenkt mir diesen Moment

Dann kamen wir raus, da war die documenta-Leitung da, Presse, einige Leute, die vom Ausstellungsgelände rübergelaufen waren, und holten uns da vor dem Revier ab. Das war wie Bilder vergangener Zeiten. Ich hatte so was immer versucht, ein Popstar zu werden, bei „Kühnen 94“ ein Neonazi-Popstar, bei „Rocky Dutschke“ wollte ich die Kulturrevolution sein, dann ein Talkshow-Popstar, und nie hat es geklappt, und nun schenkt mir die Polizei so einen Moment! Mit Solidaritätskundgebung und allem. Es fehlten nur noch ein paar Vermummte. Carl Hegemann, der Chefdramaturg des Berliner Ensembles, war auch dabei, und der hat die Sache auf einen ganz guten Begriff gebracht. Er meinte, wir wollten eigentlich beweisen, daß Kunst keine Funktion mehr hat. Und jetzt sind wir von der Welt enttäuscht, daß sie nun doch eine hat. „Das ist wie mit Hostien. Wenn die frischen Hostien verbraucht sind, greift man zu den etwas abgestandeneren. Und diese Aktion, das war eine unglaublich ranzige Hostie.“