Schein und Sein

■ Das Bruttoinlandsprodukt wächst – die Krise bleibt

Deutschland geht es wieder gold. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist zwischen April und Juni um 2,9 Prozent gestiegen. Helmut Kohl und seinen Finanzakrobaten geht es auch gold. Hatten sie nicht schon im Januar gesagt, daß das Bruttoinlandsprodukt um 2,5 Prozent steigen würde?

Überhaupt müßten die amtlichen Statistiker mit Gold überhäuft werden. Das Staatsdefizit ist auf 3,1 Prozent gesunken. So nahe waren sich Bundesregierung und Maastricht-Vertrag noch nie. Zum Greifen nahe ist Kohl somit seit gestern seiner politischen Zukunft als größter Europäer aller Zeiten. Hat er doch sein Dasein als Staatsmann mit der Einführung des Euro verbunden, der angeblich nur kommt, wenn Deutschland die in Maastricht festgelegten drei Prozent erreicht.

Nun sind 3,1 Prozent immer noch nicht 3,0 Prozent, wie Theo Waigel in Richtung CSU und konservative Wähler immer wieder versicherte. Aber fast. Um sich politisch ein paar Monate über Wasser zu halten, reicht das. Wer will da schon so genau wissen, daß weder gesteigertes BIP noch geschrumpftes Defizit etwas mit der Politik der Bundesregierung zu tun haben. Gerackert für beide Größen haben lediglich die Arbeitnehmer. Sie haben in den Unternehmen Überstunden geschoben, damit die ihre vollen Bücher mit Aufträgen aus dem Ausland abarbeiten konnten.

Das Ausland kauft allerdings nicht in Deutschland, weil hierzulande so eine vorzügliche Wirtschaftspolitik betrieben wird, sondern weil die Mark billig ist. An den Arbeitnehmern hat sich die Bundesregierung gar bereichert, um das Defizit zu drücken. Dank der von ihr mittels Sparpaket angehobenen Sozialabgaben hat Bonn fünf Prozent mehr Geld aus der schrumpfenden Schar der Arbeitenden geschröpft.

Als Investor hat die Bunderegierung jedoch den Standort Deutschland verlassen. Sie traut sich eben selbst nicht mehr über den Weg. Mit mindestens 4,4 Millionen Arbeitslosen, die keine Steuern mehr zahlen, sind Ausgaben in die Zukunft der Konjunktur nicht zu machen. Dabei stärkt nachhaltig einzig die Binnennachfrage die Wirtschaft und somit auch den Staat.

Somit verblassen die schönen Zahlen vom goldenen Aufschwung des BIP und vom sinkenden Defizit. Sie sind eine dünne Legierung – mehr nicht. Ulrike Fokken