piwik no script img

Auf Sand und Wolle gebaut

Der Niedergang kam mit dem Panamakanal – Die südlichste Großstadt der Welt heißt Punta Arenas, liegt in Feuerland und wurde von Emigranten erbaut  ■ Von Andrejs Gramatins

Ushuaia sei doch keine Stadt, stellte der pikierte Student aus Santiago klar, als wir daran zweifelten, daß Punta Arenas tatsächlich die südlichste Stadt der Welt sei. Natürlich liege Ushuaia eindeutig weiter im Süden – bis Kap Hoorn sind es gerade mal 150 Kilometer Luftlinie. Aber 30.000 Einwohner machten noch keine Stadt aus. Und die paar Hütten ließen sich mit den Gründerzeitvillen und Hochhäusern im Zentrum von Punta Arenas (116.000 Einwohner!) überhaupt nicht vergleichen. Und, aber das erwähnte er nicht: Ushuaia liegt in Argentinien. Und Punta Arenas in Chile.

Don Jaime, Barmann im Club Español von Punta Arenas und der begabteste Kellnerdarsteller, den ich kenne, denkt lange nach, als ich zwei Margaritas bestelle. Er bringt ein Glas Rotwein in die Küche (nicht das letzte an diesem Abend), gießt Gläser für andere Gäste ein, serviert große Platten mit Lachs oder Churrasco. Mehr als eine Zigarettenlänge nach meiner Bestellung dreht er sich wieder zu uns um. „Zwei Pisco Sour?“ fragt er. Punta Arenas, die ernste Matrosen- und Ölarbeiterstadt, ist kein Ort für heitere tropische Drinks.

Punta Arenas wurde 1849 gegründet. Im vergangenen Jahr wurde die hundertste Wiederkehr der Stadtgründung gefeiert. Die Zeit davor zählt nicht so richtig. Denn die erste größere Bewohnergruppe in der Bucht von „Sandy Point“ waren Sträflinge, wegen besonderer Brutalität ans Ende der Welt verbannt. Bis 1877 gab es eine ganze Reihe blutiger Revolten von Häftlingen und aufgehetzten Wachsoldaten, mehr als einmal wird dabei die Siedlung fast völlig zerstört.

Beim späten Rückweg ins Hostal „Dinka's House“ laufen wir die Magellanstraße entlang, den lange gesuchten Seeweg nach Indien. Wenige Meter abseits des Stadtzentrums steht eine Hafenspeicherruine windschief an der Straßengabelung, wie ein gestrandetes Schiff. Daneben parkt ein schwarzer Omnibus, ein Matrose sitzt am Steuer, von wenigen Birnchen fahl erleuchtet. Wir erreichen den Strand über eine Düne aus Abfällen. Still lappt die Magellanstraße ans Ufer. Eine Fähre liegt im Wasser, das einzige Licht im Meeresarm. Kein Feuer brennt auf Feuerland. Staubstraßen enden am Ufer. Einige Halbwüchsige haben sich zu einer improvisierten Disco versammelt, „If you wanna be my lover...“ dröhnt aus der voll aufgedrehten Anlage eines Pickups am Straßenrand.

Im November 1520 liegt die „Trinidad“ unter Kapitän Fernão de Magalhães in einem Meeresarm, der eine Bucht sein könnte – oder der Seeweg nach Indien. Wieder einmal fehlt ein Schiff seiner kleinen Flotte. Der Steuermann ist umgekehrt, glaubt nicht an den Erfolg der Reise. Magalhães weiß das noch nicht, beschließt zu warten, schickt ein Boot nach Westen. Nach drei Tagen kehrt es zurück. Die Matrosen haben ein Kap und ein großes Meer gesehen. „Cabo deseado“, das ersehnte Kap, tauft es der Seefahrer. Von hier an wird er als erster Weltumsegler in die Geschichte eingehen, obwohl für ihn die Reise auf den Philippinen zu Ende ist – er fällt im Kampf mit der einheimischen Bevölkerung. Allenfalls seine 18 Begleiter, die nach Sevilla zurückkehren, verdienen diesen Ruhm. Sie bringen so viele Gewürze mit, daß auch ihre Finanziers – darunter die Fugger – zufrieden sind.

Was an diesem Abend so träge an den schmutzigen Strand dümpelt, war für die frühe Segelschiffahrt eine schwere Herausforderung. Gewunden und voller Riffe und Untiefen zieht sich die Magellanstraße zwischen dem lateinamerikanischen Festland und der feuerländischen Inselwelt dahin. Knapp hundert Jahre nach dem Portugiesen in spanischen Diensten fand der Holländer Willem Schouten die Alternative. Das kleine Inselchen, das er auf dem Weg in den Pazifik umsegelte, nannte er nach seiner Heimatstadt: Kap Hoorn.

Als die Engländer im 19. Jahrhundert die Islas Malvinas besetzten, sicherte Kapitän Juan Williams den „Sandy Point“ etwa auf halber Strecke der Magellanstraße für Chile. Viele Seefahrer, die die chilenische Flagge tief im Süden hißten und dadurch das Land vergrößerten, tragen Namen, die sie als Einwanderer ausweisen: Herman Eberhard sicherte Santiago seinen Teil von Feuerland, Adolfo Andresen das chilenische Tortenstück der Antarktis. Damals genügte es, einen bunten Lappen in den jeweiligen Landesfarben hochzuziehen, und selbst schwerbewaffnete Kriegsschiffe der anderen Seite drehten ab.

Wer heute durch die Straßen von Punta Arenas läuft, wird kaum jemanden treffen, dessen Aussehen auf indianische Herkunft schließen läßt. Die Alakaluf und Tehuelche aus dem Süden Chiles wurden Opfer der weißen Siedler – und Opfer der Mönche, die sie retten wollten. Die Salesianer zeigen heute in ihrem Museum neben der weltgrößten Mottenkugelsammlung, den Lämmern mit zwei Köpfen, wurmstichigen Guanacos und glanzlosen Albatrossen eines der widerlichsten Fotos, das ich kenne. Drei Männer in Räuberzivil auf der Jagd. Einer hält Ausschau, zwei haben die Waffe im Anschlag. Auf dem Boden liegt die bisherige Strecke: ein nackter Ona-Indianer, der nutzlose Bogen neben ihm. Eine Reproduktion des Fotos gibt es im benachbarten Andenkenladen als Postkarte. Noch um die Jahrhundertwende zahlten die Schafzüchter ein Pfund Sterling Kopfgeld für jeden getöteten Indianer. Der Staat Chile lockte mit leerem Land tatkräftige Fremde an. Richtig leer war das Land für die Schafzüchter erst, als keine Indianer mehr Jagd auf diese unbeweglichen Guanacos machten. Auch der Mönchsorden der Salesianer zahlte ein Kopfgeld – für lebende Indianer. Die ursprünglich auf Feuerland oder in gebrechlichen Kanus auf dem Meer lebenden Nomaden mußten in enge Baracken ziehen, die Frauen Sticken und andere Handarbeiten lernen. Doch immer wieder brachen tödliche Epidemien aus – oft eingeschleppt durch Kleiderspenden aus Europa. Jetzt leben höchstens noch an die hundert Tehuelche, Ona, Yaghan und Alakaluf in Patagonien und auf Feuerland.

Damals war die Magellanstraße ein unersetzlicher Seeweg zwischen Atlantik und Pazifik. Punta Arenas boomte, der Hafen lag ständig voller Schiffe. In Kühlhäusern lagerten Tonnen von Schaffleisch. Der Wollhandel machte die wenigen Familien reich, die das Land unter sich aufgeteilt hatten. Das waren die Brauns (vor den Pogromen aus Litauen geflüchtete Juden), die Menéndez aus Asturien oder die Nachfahren des portugiesischen Wal- und Robbenfängers José Noguiera. Um die Plaza de Armas setzten sich die Wollbarone ihre Denkmäler. Gründerzeitvillen, die heute vor allem der chilenischen Armee als Offiziersclub dienen. Der Palacio Mauricio Braun ist heute ein Museum.

Das mußt du dir ansehen, sagte Brigitte und lotst mich in die Besucherinnentoilette. Prächtig und offensichtlich funktionstüchtig steht da die Badewanne der Brauns von 1905. Kein Stück der Innenausstattung stammt aus Chile. Die reich gewordenen Einwanderer holten sich europäische Lebensart in ihre neue Heimat: mit italienischem Marmor, französischen Tapeten, Möbeln aus London – und Kunst aus Spanien. Im Salon hängt eine Genreszene des Madrider Akademikers Ruiz Blasco. Auf dem Zettel daneben heißt es, daß sein Sohn beim Malen assistierte. So ließen sich die Füße der ölgemalten Ente eindeutig dem Junior zuschreiben: „Und der Sohn ist kein anderer als ... Pablo Picasso.“

So prächtig die Villa, so prächtig auch das Grabmal der Sarah Braun auf dem Friedhof von Punta Arenas, auf dem sich die Einwanderungswellen in den Süden Chiles ablesen lassen wie die Herkunft der Stadtbewohner heute im Telefonbuch oder auf den Ladenschildern. Da liegen die Marusic-Katanarics neben der Familie Foschino- Frangopoulos, Chamorro zwischen Blanchard und Kahyel-Chelech. Und zwischen bronzenen Granatenhülsen, einer Stiftung der deutschen Gemeinde von Punta Arenas aus dem Jahr 1925, das Grab von Admiral Graf Spee, gefallen anläßlich der Seeschlacht vor den Falklandinseln 1914. Selbst hier führten die Deutschen ihren Ersten Weltkrieg.

Dabei hatte 1914 Punta Arenas seine Bedeutung längst verloren. Der Panamakanal war soeben fertig geworden und machte den langen und gefährlichen Seeweg um die Südspitze des amerikanischen Doppelkontinents überflüssig. Das Gold hatte höchstens Abenteurer angelockt, Öl und Kohle schufen später allenfalls Abraumhalden und Verwaltungsgebäude. Letztere werden gern geschmückt mit kulturellem Erbe. Eines der modernen Hochhäuser ziert über mehrere Stockwerke hinweg ein Gedicht von Gabriela Mistral. Die 1889 geborene Dichterin holte 1945 erstmals den Literaturnobelpreis nach Lateinamerika.

Die Einwanderer, die in den vergangenen siebzig Jahren kamen, ließen sich schon mit dem Versprechen von ein wenig kargem Land und günstigen Startbedingungen locken. Die letzte große Migrantenwelle kam aus Jugoslawien nach Punta Arenas. Die Avenida Yougoslavia von Punta Arenas wurde zur Avenida Croatia.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen