Der Wille zum Wahn

Hysterie als kultureller Text: Elaine Showalters „Hystorien“  ■ Von Mariam Lau

Es gibt einen Typus von Nachrichten, der sich – wenn seine Zeit reif ist – auf erstaunlichen Wegen von der Vermischtenseite Richtung Titel vorarbeitet. Greifen wir einmal willkürlich in den Pool: In Montana verteilt eine rechtsextreme Miliz Flugblätter, denen zu entnehmen ist, daß die Regierung das Blutbild der US-Bürger verändere, um so den Aufbau einer neuen Weltordnung voranzutrieben.

Der Bombenleger Timothy McVeigh läßt seine Anwälte wissen, das Pentagon habe ihm während seines Einsatzes im Golfkrieg einen Microchip zur Überwachung ins Gesäß eingepflanzt. 1993 meldet sich „eine erstaunliche Zahl von Frauen“, so der Journalist Leslie Bennett, mit Berichten von satanischen Mißbrauchsritualen, in denen sie als Kinder bei Teufelsanbetungen gezwungen worden seien, Drogen zu nehmen, Babys zu essen, sich an Kreuze binden und für Kinderpornos fotografieren zu lassen.

Damit aus solchen Einzelfällen das werden kann, was die amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Medizinhistorikerin Elaine Showalter eine „hysterische Epidemie“ nennt, braucht es vor allem drei Dinge: ratlose, unglückliche Patienten, enthusiastische Ärzte oder Theoretiker, die der Sache einen Namen geben, und schließlich ein kulturelles Klima von Endzeitstimmung, religiöser Emphase und diffusen Bedrohungsgefühlen.

Showalter hat, vor allem in den USA, sechs große psychogene Syndrome gefunden, die zu den Neunzigern gehören wie Love Parades oder Tamagotchi: das Golfkriegssyndrom, die Multiple Persönlichkeit, die Wiedergewonnenen Erinnerungen vor allem an sexuellen Mißbrauch („Recovered Memory Syndrome“), den Satanischen Ritualmißbrauch, die Entführung durch Außerirdische und die Chronische Müdigkeit. Zu all diesen Syndromen sind längst Selbsthilfegruppen aus dem Boden geschossen, gibt es Ärzte, Therapeuten und Kliniken, die auf ihre Behandlung spezialisiert, und Journalisten, die durch Reportagen zum Thema bekanntgeworden sind. Und wir reden hier nicht von zwanzig Leuten: Von den 697.000 US-Soldaten, die am Golf eingesetzt waren, gaben 60.000 an, unter unklaren Beschwerden zu leiden, die sie auf geheime Experimente ihrer Regierung mit Nervengasen und anderen Chemikalien zurückführen. David Finkelhor, ein Therapeut, der über sexuellen Mißbrauch schreibt, geht von 62 Prozent weiblicher Betroffener aus. Mindestens „24.000 Kinder in England“, so wollte die Times kürzlich wissen, litten am Chronischen Müdigkeitssyndrom, und dies sei erst „die Spitze des Eisbergs“.

Ein zu hoher Verbreitungsgrad von psychoanalytischer Bildung ist einer solchen Epidemie eher hinderlich: Gerade weil die Betroffenen händeringend nach externen Ursachen suchen – in der nicht unbegründeten Angst, mit lediglich psychischen Motiven nicht als wirklich leidend durchzugehen –, kommt es zu den grotesken Verschwörungsszenarien, Gerichtsverfahren und Hexenjagden, die oft im Windschatten dieser Epidemien folgen.

Wem die Beispiele zu amerikanisch sind, der muß sich nur die letzte Woche vor Augen halten: Die fieberhafte Suche nach politischen oder wenigstens soziologischen Gründen für Lady Dianas Schicksal hat uns alle in Trab gehalten und vor dem Verdacht bewahrt, es könne sich bei ihrer Bulimie, ihrer unglücklichen Ehe und womöglich sogar dem fast suizidal anmutenden Ende um gemeines neurotisches Elend gehandelt haben.

Die Auseinandersetzung mit der Psychonanalyse ist vielleicht der schwächste Teil von Showalters „Hystories“. Zunächst wird die Hysterie von Jean-Martin Charcot an der Pariser Salpêtrière erfunden und in dramatischen Aufführungen vor großem Publikum vorgeführt – als somatische Erkrankung mit Zittern, Ohnmachtsanfällen und „Stigmata“, deren Bildlichkeit eindeutig der religiösen Ikonographie entlehnt war. Das gilt natürlich auch für den Kult um Charcot als Wunderheiler, den später Jacques Lacan beerben sollte.

In Showalters Rückblick erscheint dann die „talking cure“ des Charcot-Schülers Sigmund Freud als lediglich vom patriarchal-narzistischen Eigeninteresse geleitete Erfindung eines fast ausschließlich bei Frauen festgestellten Krankheitsbildes, diesmal als Resultat der Verdrängung sexueller Konflikte. Die Hysterie ist hier das Produkt einer Symbiose zwischen den jungen Ärzten einer noch mißtrauisch beäugten Disziplin und hilfesuchenden Frauen, die sich bereitwillig Symptome „diktieren“ ließen. So habe Freud die untragbare familiäre Situation seiner berühmten Patientin Dora schlicht ignoriert (und dadurch mit ihrem Vater kollaboriert), um sie zum idealen psychoanalytischen Studienobjekt zuzurichten. Der große Befreiungsschlag, der darin bestand, daß überhaupt ein Arzt mit Frauen über Sex redete, bleibt in dieser Darstellung unsichtbar, auch wenn Showalter Freud dann doch gegen das aktuelle Freud-Bashing in Schutz nimmt.

Akkurater und auch engagierter wird die „Hystorie“, wenn Showalter sich dem Thema Feminimus und Hysterie zuwendet. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschwand die Hysterie von der psychiatrischen Agenda, wo sie heute als „narzißtische Störung“ geführt wird, und macht sich seither immer mehr als kulturelles Phänomen, immer „textförmiger“ bemerkbar. „Viele ihrer neueren Syndrome“, so schreibt sie, „sind heute genau mit einem bestimmten literarischen Genre verklammert – die Multiple Persönlichkeitsstörung mit der Beichte, der Satanische Ritualmißbrauch mit der Horrorgeschichte, die Entführung durch Außerirdische mit Science-fiction.“

In den siebziger Jahren schrieben sich, speziell in Frankreich unter dem Einfluß Lacans, Feministinnen die Hysterie geradezu auf die Fahnen. „Nous sommes toutes des hysteriques!“ hieß die Losung, für die die Hysterie eine Art rudimentären Feminismus und der Feminismus eine Art beredter Hysterie darstellte.

Das wirkliche Drama beginnt für die Feministin Showalter da, wo aus dieser Selbsthilfebewegung reine Opfererzählungen werden – wobei man sich fragen kann, ob in den Annahmen vom grundsätzlich anderen weiblichen Erleben, vom „Sprechen außerhalb der Sprache“ nicht von vornherein der Wurm drin war – wenn der Ausdruck hier erlaubt ist. Jedenfalls beschreibt sie die Bewegung, in der hysterische Symptome als „Kriegsneurose des Geschlechterkampfes“ gelesen werden und Frauen sich haufenweise zu „Überlebenden“- Treffen versammeln, als gefährlichen „Inzest-Kitsch“. 800.000 Exemplare des Readers „Trotz allem: Wege zur Selbstheilung“ wurden inzwischen in den USA verkauft. Um eventuellen Mißbrauch selbst zu diagnostizieren, an den sich die Leserin womöglich nicht mehr erinnern kann, ist ein Fragebogen beigefügt. Wer Fragen wie „Fällt es dir schwer, liebevoll und gut zu dir zu sein“ oder „Bringst du die Dinge, die du anfängst, auch zu Ende“, „Versuchst du, sexuelle Kontakte zu benutzen, um Bedürfnisse nicht sexueller Art zu befriedigen“ bis hin zu „Erregen dich gewalttätige oder sadistische Phantasien oder die Vorstellung von sexuellen Kontakten mit nahen Familienangehörigen?“ bejaht, gehört für die Autorinnen zum großen Kreis der „Überlebenden“. Es liegt auf der Hand, daß sich dieser Kreis bei solchen Fragen zunehmend mit dem der weiblichen Bevölkerung deckt. Und daß es gerade Phantasien wie die letztgenannten sind, die mit der Geschichte der „Kriegsopfer“ des Geschlechterkrieges abgewehrt werden müssen.

Im Kampf um die „Wiedergewonnene Erinnerung“, in der Therapeuten und Patientinnen an einer Erzählung arbeiten, die mit dem Trauma beginnt und oft genug mit einer Anzeige gegen den beschuldigten Vater, Onkel, Bruder endet, hat sich längst eine Gegenbewegung der Betroffenen gegründet. Regelrechte „Memory Wars“ sind im Gang. Das „Multiple Persönlichkeitssyndrom“ war die nächstschärfere Waffe in diesem Krieg, die darauffolgende war das „satanische Mißbrauchsritual“ und schließlich die Entführung und der sexuelle Mißbrauch durch Aliens in Ufos. Man sieht, wie der hysterische Versuch der Externalisierung immer weitere Spiralen dreht: von anderen inneren Persönlichkeiten über verrückte Teufelsanbeter bis hin zu Aliens. Ich bin's nicht, Adolf Hitler ist's gewesen!

Natürlich nutzt es Showalter nichts, zu betonen, daß sie die Leiden, die hinter diesen Epidemien stecken, und erst recht den „echten“ sexuellen Mißbrauch selbst oder die Schlaflosigkeit nach dem Golfkrieg zutiefst ernst nimmt und nur die Ideologie der Victimization nicht mitkaufen will. Längst wird sie vor Tribunale zitiert, erhält auf Vortragsreisen Verratsvorwürfe und Morddrohungen. Aber sie sieht sich nicht „auf der anderen Seite“: „Ich selbst fange während meiner Vorlesungen über Hysterie jedesmal an zu husten. (...) Wir sind alle Hysteriker.“

Elaine Showalter: „Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien“. Berlin Verlag, Berlin 1997, 319 S., 39,80 DM