■ Bündnisgrüne: Daniel Cohn-Bendit zu dem umstrittenen Diskussionspapier „Start in den Staat des 21. Jahrhunderts“
: „Die sind rationaler, als wir waren“

taz: Eine Gruppe junger Grüner hat das Diskussionspapier „Start in den Staat des 21. Jahrhunderts“ vorgelegt. Eingeleitet ist es mit scharfer Kritik an der 68er Generation: satt sei sie, in alten Konzepten verhaftet, von der gesellschaftlichen Realität entfernt, ohne Willen zur Macht.

Daniel Cohn-Bendit: Die 68er- Kritik ist eine hervorragende Marketingstrategie und war Voraussetzung, daß die Medien hellhörig wurden. Denn dort sitzen überwiegend Post-68er, denen die 68er mit ihren moralischen und geschichtlichen Ansprüchen auf die Nerven gingen. Allerdings haben sie mit dieser Kritik nicht wirklich die 68er getroffen und deren Entwicklungsprozeß in den letzten 30 Jahren beschrieben.

Sondern?

Die Verfasser wollten einfach darstellen, daß die Aufgabe, die vor uns steht, nämlich 1998 die Wahlen zu gewinnen, voraussetzt, daß die Grünen sich als Partei von linkradikalen Traditionen der permanenten Opposition verabschieden. Diese Forderung ist richtig, allerdings haben sie sich in der Schublade vergriffen. Wenn es in der Partei ein Symbol für den Willen zur Macht gibt, dann ist das der 68er Joschka Fischer.

Welcher Teil der Partei läßt es am entsprechenden Willen zur Machtübernahme nach der Bundestagswahl 1998 fehlen?

Die Jungen wollen den Mittelbau der Partei anstacheln, der sich in der Mehrheit nicht bewußt ist, welche historische Auseinandersetzung mit der Wahl 1998 vor uns liegt. Dieser Funktionärsmittelbau kommt politisch aus Bürgerinitiativen, maoistischen Parteien und der SPD. Sie haben ihre Selbstdefinition in der Rolle als neue Oppositionspartei gefunden und haben Schwierigkeiten mit dem anstehenden Paradigmenwechsel, der in den Kommunen und auf Länderebene ja schon stattgefunden hat. Dieser Paradigmenwechsel erneuert sich mit der Frage des Regierungswechsels, weil da die Politik noch schwieriger, noch komplexer wird und noch mehr Entscheidungen verlangt.

Was ist unter diesem Paradigmenwechsel zu verstehen?

Die Bosniendebatte hat gezeigt, wie schwierig es für die Partei ist, sich so zu verhalten, daß sie nicht nur sagt, wenn die Welt so wäre, wie wir wollen, dann wüßten wir, was wir machen. Die entscheidende Frage ist, was machen wir mit der Welt, wie sie ist.

Ähnlich verhält es sich mit Europa und dem Euro. Man hätte sich natürlich eine andere Zuspitzung der Situation in Europa vorstellen können. Aber jetzt müssen wir so argumentieren und handeln, als ob wir schon in der Regierung wären. Wir müssen den Menschen sagen, ja, wir wollen Europa, wir sind die Partei Europas, wir werden den Euro machen, und wir werden in der Bundesregierung versuchen, das Demokratiedefizit, das Verfassungsdefizit in Europa zu überwinden. Das ist Politik ein Jahr vor der Bundestagswahl.

Ich höre bei Ihnen Sympathie gegenüber den Unterzeichnern des Diskussionspapiers heraus, wie diese versuchen, das traditionsverhaftete Milieu der Grünen auf Trab zu bringen. Von anderen Parteimitgliedern werden sie allerdings als neoliberal, zu angepaßt und inhaltlich zu flach kritisiert.

Ich finde deren Versuch, Diskussionsprozesse in Gang zu setzen, richtig. Die Unterzeichner sind rationaler, als wir es waren, das hat den Vorteil, daß ein Überschuß an Wahnsinn fehlt. Wir waren zum Teil zu wahnsinnig, das war auch nicht das Gelbe vom Ei. Die Kritik, die Unterzeichner seien zuwenig rebellisch, ist völlig verfehlt.

In dem Diskussionspapier wird mit einer Reihe von Unterstellungen gearbeitet, nicht nur gegen die 68er Generation. So wird behauptet, die Grünen seien auf Vollbeschäftigung fixiert, und unbezahlte Arbeit, zum Beispiel Hausarbeit und ehrenamtliche Arbeit, würde keine Würdigung erfahren.

Das Spannende an den Ausführungen zur Vollbeschäftigung ist doch, daß die Unterzeichner versuchen, einen neuen Arbeitsbegriff zu definieren. Sie sagen klar, man muß staatliche Interventionen, zum Beispiel Arbeitszeitreduzierung, da wo es notwendig ist, vorantreiben, aber wir müssen gleichzeitig individuelle Strategien und Initiativen, zum Beispiel Existenzgründungen, stärken. Sie fordern die Gesellschaft auf, Mittel zur Verfügung zu stellen, damit sie ihre Arbeit selbst erfinden können. Im linken Jargon ist das etwas Neues und wird schnell als neoliberal denunziert.

Die Linke geht sehr traditionell mit Positionen um, die das individuelle Wollen als Stärkung der Möglichkeiten des Individuum herausstellen. Und diese Jungen sagen, da wollen wir rein in die traditionelle liberale Theorie, das wollen wir uns jetzt aneignen.

Das Papier beschränkt sich auf Punkte der materiellen Versorgung der jungen Generation. Es fehlen wesentliche Politikfelder wie die Ökologie und die Einwanderungspolitik.

Hätten sie alles aufgezählt, was fehlt, hätte der Text keine Sprengkraft gehabt. Eine vernünftige Einwanderungspolitik zu machen ist bei den Grünen unstrittig, das hätte niemanden interessiert. Die Verfasser des Papiers haben einen provokatorischen Text gemacht, dabei soll man es belassen und das nicht überfrachten. Das Interessante ist für mich die Frage, die sie stellen zwischen klassischer linker Sozialethik und einer neuen liberalen Individuumsposition. Dies ist eine überfällige Diskussion bei den Grünen. Auch bezüglich der Bildungspolitik vertritt die Gruppe vernünftige Positionen. Die Zukunft der Bildung und Ausbildung ist eine wesentliche Voraussetzung, um die junge Generation vorzubereiten, die künftigen gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen auszuhalten. Man muß sich nur die Positionen der Grünen in Hessen in Bildungs- und Ausbildungsfragen ansehen, um zu erkennen, daß es enorme Defizite gibt.

Welche Wirkung wird das Papier auf die innergrüne Auseinandersetzung haben?

Es werden sich nun alle Traditionalisten zu Wort melden, den Zeigefinger heben und sagen: So nicht. Das ist normal. Am Ende glaube ich allerdings, daß die Unterzeichner mit zu denen gehören werden, die eine ganz wichtige Rolle bei der endgültigen Formulierung des Reformprojekts für 1998 und bei der Begleitung unserer Politik spielen können, sollten wir die Bundestagswahlen gewinnen. Das heißt nicht immer, den kürzesten sozialdemokratischen Weg zu gehen, sondern auch mal etwas Neues zu versuchen, was der alten Tradition des Staatsdirigismus widerspricht. Interview: Eberhard Seidel-Pielen