Ostfriesland ist on action

■ Nach „Fränkie, Johnny und die anderen“dreht Regisseur Hans-Erich Viet schon seinen zweiten Kinofilm in der Region

Überfall, bewaffneter Raub, Verbrecherjagt, Liebe, Leid und die nationale Krise der deutschen Schnapsindustrie, kurz der normale Alltag ist in die beschauliche Idylle der sonst gegen alle Hektik gefeiten, ostfriesischen Kleinstadt Leer eingebrochen. Da, wo bis vor zwei Wochen noch ein Fahrraddiebstahl das kriminalistisch interessierte Herz höher schlagen ließ, werden unter den skeptischen Blicken mißtrauischer Ostfriesen Waffen hin- und her verschoben und Lottostellen beraubt. Ostfriesland is on action. Der aus dem Berliner Exil in seine Heimat zurückgekehrte Hans-Erich Viet dreht seinen zweiten großen Kinospielfilm, den Krimi „Sterna Paradisa“in der Region.

Der Plot: Hubert ist leidenschaftlicher Schnapsbrenner. Wegen Absatzschwierigkeiten (??) wird er entlassen. Pech, denn gerade spart er auf ein Ticket nach China, um die Schwester seines chinesischen Kollegen zu ehelichen. Das fehlende Geld zum Glück holt sich Hubert von einer Lottoannahmestelle. Allerdings nicht per Lottoschein sondern mit vorgehaltener Waffe. Überzeugt von der effektiven Geldbeschaffung, schließt sich die Angestellte des Lottoladens, nebst 10jähriger Tochter dem flüchtenden Räuber an. Polizei und andere zwielichtige Typen hängen sich den Flüchtenden an die Fersen. Wie die Sache ausgeht, ist nächstes Jahr im Kino und später in der ARD-Reihe „Wilde Herzen“zu sehen. Der NDR finanziert die Produktion mit fast zwei Millionen Mark. Dafür hat Viet, der früher mit Laien drehte, auch ein paar KünstlerInnen an die Ems gebracht, über deren Erscheinen sogar Ostfriesen aufgeregt tuscheln: Martin Wuttke vom Berliner Ensemble, Hermann Lause, der ewig auf böse getrimmte Horst Frank, Armin Rohde, Gesa Badenhorst, Hubertus Hartmann und zum ersten Mal die elfjährige Anne Luhn, Tochter von Viets Lebenspartnerin Usch Luhn. „Anne hat an vielen Dialogen mitgefeilt“, meint Viet, der auch für das Drehbuch verantwortlich ist.

Normalerweise wird im ehrwürdigen Ratskeller des Rathauses im ostfriesischen Leer sachte schmackhafter Limandes von der Gräte gekratzt. In dem unterirdischen Gewölbe, besonders bevorzugt von der konservativen Ratsfraktion, wurde schon so manche lokalpolitische Intrige eingefädelt oder, vornehmlich nach reichlichem Genuß regionaltypischer Spirituosen, manch später nicht mehr nachvollziebarer Fraktionsbeschluß gefaßt. Der sonst um Diskretion bemühte Wirt ist nervös und ringt um Contenance: „Sie machen hier aber wieder alles so, wie es vorher war, ja?“Regisseur Viet hat Leers Edelfischkneipe mit Filmcrew, über fünfzig Statisten und zwei LKW-Ladungen von Scheinwerfen, Tonaggregaten, Kameras und Endloskabeln in eine Werkhalle verwandelt. Zu allem Überfluss versucht die Stimmungskombo „SSW“, So-Sind-Wir aus Delmenhorst, die Gesamtgesellschaft in hochzeitliche Laune zu versetzen. Seit anderthalb Stunden wird eine 30 Sekunden lange Sequenz einer Hochzeitsfeier geprobt. „Filmen heißt warten, das hab ich schon gelernt“, meint die Statistin Ute Metzner.

Die Polonaisemusik ist bereits tief ins zentrale Nervensytstem aller Anwesenden eingedrungen. Unablässig zappen Füße, wippen Hintern, wiegen Schultern. Die eigentliche Szene wird ohne echte Musik und Festtrubel gedreht. In der Totenstille des überfüllten Raumes quappen fünzig Münder lautlos wie Fischmäuler und imitieren pantomimisch ausgelassenes Partytreiben. Trotzdem ist soviel Bewegung im Raum, daß die Kamera wackelt. „Alles noch mal von vorn“, schimpft Kameramann Kotowski.

„Otto schickt mich“, beginnt Hauptdarsteller Hartmann zum x-ten Mal seinen Dialog. Who the fuck is Otto? In jeder Ritze der Restaurantvertäfelung, unter jeder Faser der Auslegware scheint sich jemand zu materialisieren, der Otto heißt. Der Kerl überhaupt. Otto ist überall. Otto, melde Dich!

Trotz drückender Hitze wird die Hochzeitspolonai-se mehrmals um die Tafel geschickt. Trotzdem verwechselt ein Statist den Drehort nach der fünften Probe mit dem „Blauen Bock“. Zufrieden strahlt er in die Kamera und grüßt winkend die Lieben an den Schirmen daheim.

Großartiges leistet Panala Khieosa-Arp. Die Thailänderin spielt die Braut. Bewegungslos sitzt sie fast zwei Stunden neben ihrem Bräutigam ( Hans-Ulrich Meyer). Kein liebender Blick bindet die beiden. Aber wenn die Probe beginnt, knipst Panala ein Lächeln an, daß den Rest des seit Stunden in zahlreichen Gläsern abstehenden Bieres zum Sieden bringt. Morgens noch hatte sich Panala mit Martin Wuttke auf dem Flughafen die Hand gegeben. Er hetze ins Theater, um abends als Brechts Arturo Ui auf der Bühne zu stehen, sie, um ihr Flugzeug nach Ostfriesland zu verpassen. Sie mußte mit einer Privatmaschine eingeflogen werden. Ähnlichen Ärger gabs für die Crew auf der Fahrt zum letzten Drehort nach Borkum. Ihr Schiff stieß mit ablaufendem Wasser auf Grund: Sieben Stunden drehfrei für alle.

Mittlerweile hat auch der befremdlich dreinschauende – echte – Kellner begriffen, daß er die Essensreste des Hochzeitsmahles nicht anbräumen darf. Sichtlich erschüttert linst er auf das Gegammel. Seine Frage, ob man es denn nicht ein bißchen hübscher auf der Tafel anrichten könnte, stürzte die Regieassistentin in solche existenzielle Fassungslosigkeit, daß der Kellner sich schüchtern in die dunkelste Ecke hinter dem Thresen zurückzog.

Unbemerkt von der Aufnahmeleitung, hat sich Hajo Prahm unter das Filmvolk gemischt. Hajo ist ein bekanntes Leeraner Original. Immer unterwegs, immer ruhelos trägt er sein „Büro“in Form von zwanzig Kugelschreibern und einem dicken Paket Schmierzetteln in der Jackentasche. Ostfriesisch gefestigt, beobachtet er mit verschränkten Armen das Geschehen. Die Aufforderung der Regieassistentin, die Szene zu verlassen, bezieht Hajo mit der Sichertheit des Einheimischen nicht auf sich. Wie ein Fels scheint er kontrollieren zu wollen, daß hier auch alles seine Ordnung hat.

Mitten im Getümmel der ostfriesische Regisseur. Auch er strotzt vor der ruhigen Kraft der Küstenbewohner. Kein lautes Wort, keine hektische Bewegung, mit der Ernsthaftigkeit eines Kindes dirigiert er souverän das Tollhaus. Er weiß auch, wer Otto ist. Er wippt nicht nach imaginärer Polonaisemusik. Er weiß am besten, das hier alles nur Film ist.

Thomas Schuhmacher