Raubtier, nicht Beute sein

Endlich auf deutsch erschienen: Andrea Junos Standardwerk über „die weibliche Seite der Avantgarde“ in der Rockmusik. Zwischenstand: Das Patriarchat rockt immer noch. Eine feministische oral history mit vielen offenen Enden  ■ Von Heike Blümner

Es war einmal eine junge Frau, die in einer Südstaatenkleinstadt mit einem Systemanalytiker verheiratet war. Aus Freude an der Musik sang sie im örtlichen Holiday Inn für die Gäste an den Piano- Abenden. Ziemlich schnell spürte sie jedoch, daß ihre Möglichkeiten enger waren als das Kleid, in das sie sich für ihre Auftritte regelmäßig zwängte. Deshalb packte sie ihre Koffer, ließ die Kleinstadt Kleinstadt sein und machte sich auf den Weg in die New Yorker Lower Eastside. Dort nannte sie sich von nun an Jarboe und begann als Sängerin und Musikerin der Hardcore-Band Swans ein neues Leben.

Das berühmte „neue Leben“ – Rock 'n' Roll soll da ja einiges geleistet haben. Die Geschichte von Jarboe klingt wie der Authentizitäts-Remix aus „Rock 'n' Roll Radio“ und „Take A Walk On The Wild Side“ von Lou Reed: eine Strophe über kleinbürgerliche Zwänge, dann die Erleuchtung durch den Akkord und zum Schluß der staubige Weg in die urbane Freiheit. Beim Refrain können alle mitsingen: „You know her life was saved by Rock 'n' Roll.“ Und wenn sie nicht an einer Überdosis von irgendwas gestorben ist, darf sie sich noch heute unbeschränkt ausdrücken und ganz sie selbst sein.

Die männliche Geschichtsschreibung von Rock und Rebellion hat derlei Befreiungsmythen tausendfach hervorgebracht. Nicht wenige Frauen haben an ihnen mitgetextet, so daß vor lauter mutigem Gesamtsystemsprengertum die wenigen Versuche, das Patriarchat in Grund und Boden zu rocken, an den meisten Beteiligten quasi nebenwiderspruchsmäßig vorübergedröhnt sind.

Eines der wenigen Bücher, deren Atem lang genug ist, die Geschichte amerikanischer (Rock- )Künstlerinnen hintergründig zu erzählen, ist „Angry Women“ von Andrea Juno. Seit 1991, wo es in den USA erschien, ist es so was wie ein, ja: feministischer Underground-Klassiker geworden. Sechs Jahre später kommt das Buch in einer Neubearbeitung erstmals in deutscher Übersetzung heraus: „Angry Women – Die weibliche Seite der Avantgarde“.

Zu Lydia Lunch, Jarboe, Diamanda Galás, Joan Jett und anderen Künstlerinnen der achtziger Jahre gesellen sich in der Neuauflage auch die zornigen jungen Frauen der Neunziger wie Kathleen Hanna (Bikini Kill), Valerie Agnew (7 Year Bitch) und die Musikerinnen der lesbischen Hardcore-Band Tribe 8. Vertrauen – so salbungsvoll es sich anhören mag – ist die Basis dieses Buches. In ausgiebigen Einzelinterviews geht es in unsystematischer Reihenfolge um die Arbeit und das Privatleben, den Werdegang und den politischen Standpunkt der Frauen, um Sex, Drugs und Rock 'n' Roll jenseits von Stereotypen. So wird gelebte Praxis zur individuellen Theorie, eine Art feministische oral history mit vielen offenen Enden.

Das Leben von Jarboe zum Beispiel ist voller Dissonanzen. Auf den Wunsch, selbst Musikerin zu werden, folgte eine Zeit als „Dienstleisterin“ für „sexuelles Entertainment“ der durchreisenden Hardrock-Bands und dann der aufrichtige und stoische Versuch, bei den Swans mitzumachen: „Ich mußte machomäßig drauf sein, ich mußte hart sein. (...) Ich mußte damit zurechtkommen, daß fast alle Mitglieder der Band konstant betrunken waren, konstant Kette rauchten und Verhaltensmuster hatten, die meinen eigenen Denkweisen (...) völlig entgegengesetzt waren.“

Sex und Macht, Opfer sein und daraus ein Art künstlerische Expressivität und Härte entwickeln, das findet sich bei Jarboes Generation von Frauen immer wieder. Aus solchen Mustern folgt, nicht resignativ, sondern eher kämpferisch für Kathy Acker: „Alles ist sexistisch!“ Es geht darum, „die ganze Scheiße gleich hinter dir zu lassen und damit aufzuhören, den Schmerz aus der Vergangenheit weiter zu nähren. Jetzt ist die Zeit, wo du deinen Platz erobern und dir selbst deine Macht verleihen kannst“, so Lydia Lunch. „Du bettelst nicht um Macht – du holst sie dir“, formuliert Diamanda Galás die Konsequenz aus ihren Erfahrungen, „Frauen müssen anfangen, sich selbst als Raubtiere und nicht als Beute zu sehen.“

Gender und Vermarktung – unterwegs in den Neunzigern haben sich die feministischen Issues gewandelt. Und ... es geht ein bißchen munterer zu. Aus den Einzelkämpferinnen der Achtziger werden Frauenbands, die sich durch Labels, Fanzines und Clubs ihre eigenen Strukturen schaffen. Besser ist es, für das Network zu worken. Der Kampf gegen männliche Gewalt ist weder gewonnen noch verloren, aber so wie früher ist es auch nicht mehr. Stärke erhalten Frauen dadurch, sich bei Bedarf in die eigenen Kreise einklinken zu können – gerne auch mit Männern zusammen: „Es ist frustrierend, wenn du erkennen mußt: Oh wow, Männer können richtig coole menschliche Wesen sein.“ „Okay, aber es gibt keine verdammte Entschuldigung dafür, warum dann alles so sein muß“, sagt Leslie Mah von der Queercore-Band Tribe 8.

Die Bedrohung spielt also nicht mehr so sehr in der eigenen Band, sondern eher auf auswärtigen Kanälen: „die Medien“ und „die großen Plattenfirmen“, die im Zuge von Grunge in den USA ein prima Geschäft mit „alternativen“ Bands machten und der Erfolgsverweigerung in die Charts verhalfen, sorgen auch im Riot-Grrrl-Umfeld für eine Stimmung zwischen legitimen Abgrenzungsversuchen und Paranoia.

Also, jeder Hit ein Tritt gegen den Feminismus? Jede Spielminute auf MTV der totale Ausverkauf? Das ist zumindest der Sound of Diskurs in den Neunzigern. Kathleen Hanna, der schon Verrat vorgeworfen wurde, weil sie in einem Sonic-Youth-Video auftrat, sieht die Sache so: „Ich halte diese ganze Märtyrernummer für einen Haufen Scheiße... Ich hätte sagen können: Ich scheiß auf alle Majors!“ Statt dessen nimmt Hanna das Angebot einer Major-Plattenfirma wahr, bekommt 5.000 Dollar für einen Film und darf einige ihrer Freunde mit nach New York nehmen. Dort vergnügen sie sich auf Kosten des Hauses. Sie nahm „soviel von ihrem Geld, wie es ging. Und ich ging hin und hörte mir an, was sie zu sagen hatten, so daß ich mit klarem Kopf sagen konnte: ,Nein, das ist es nicht, was ich machen möchte.‘“ Use The Power!

„Angry Women“ zeigt ein unorthodoxes Spektrum an weiblichen Lebensentwürfen und Durchsetzungsstrategien. Die Frage, die während der Lektüre subtil an einem nagt, ist: Wie zeitgemäß ist „die weibliche Seite der Avantgarde“? Die Bedingungen von Frauen im Popbusiness sind in Europa im Jahr 1997 anders als in Amerika, und das Medium (Protest-)Rock und Punk hat sich hier so ziemlich erledigt.

Diese Kritik richtet sich weniger an Andrea Juno, die davon überzeugt ist, daß Rockmusik die „Nabelschnur als auch die Feedbackschleife der kapitalistischen Kultur“ sei. Vielmehr ist es verwunderlich, daß die im Buch interviewten Frauen immer und immer wieder als Exempel für „Frauen, die sich erfolgreich emanzipiert haben in der bösen Musikwelt“. herhalten müssen. In jedem progressiven Reader über Popkultur taucht in der Sparte „Feminismus“ das Riot- Grrrl-Thema auf, was ja grundsätzlich auch in Ordnung geht. Seit es Clubs gibt, Raves und elektronische Musik, ist der feministische Popdiskurs hierzulande sanft entschlafen. Wie schön wäre eine auf neuere Musikgenres und Szenen bezogene Diskussion in der Ausführlichkeit, mit der Andrea Juno in den USA ihr Umfeld dokumentiert hat!

Andrea Juno: „Angry Women“. Hannibal Verlag, 272 Seiten, 42DM