"Ich bin auch im Leben Langstreckler"

■ Emil Zatopek wird 75. Als vierfacher Olympiasieger war er ein Held des Sozialismus. Nach dem Prager Frühling landete er als Widerständler im Uranbergbau. Heute geht er nur täglich mit dem Hund spazier

taz: Laufen Sie eigentlich noch, Herr Zátopek?

Emil Zátopek: Nein, aber ich muß täglich zweimal mit unserem Hund Kuba spazierengehen. Wir haben ihn aus einem mährischen Dorf zu uns genommen, nach dem Tod seines Frauchens. Anfangs war er traurig hier in Prag, dann hat er die Bekanntschaft vieler Hunde in der Nachbarschaft gemacht.

Sie stammen aus Mähren, sind Sie oft dort?

Die Schule in meinem Heimatort ist nach mir benannt; zu Sportveranstaltungen lädt sie mich regelmäßig ein. In Koprivnice lebt auch mein Bruder Georg, das letzte meiner Geschwister. Die Gegend ist interessant, ein klassisches Industriegebiet. Auch deswegen spreche ich übrigens so gutes Deutsch. Ich studierte Chemie, und die deutsche Fachliteratur ist die beste. Mein Vater war Tischler, der kannte von einigen Werkzeugen überhaupt nicht den tschechischen Namen. Für ihn hießen sie Hobelbank, Spitzmeißel, Schraubenzieher und so weiter.

Wie kamen Sie zum Langstreckenlauf?

Ich begann 1937 in der Schuhfabrik Bata in Zlin zu arbeiten. Abends ging ich zur chemischen Industrieschule. Schon damals veranstaltete die Stadt den „Lauf durch Zlin“. Ich war daran überhaupt nicht interessiert, aber unser Lehrer, der sehr sportlich war, appellierte: „Liebe Knaben, jeder ist verpflichtet, am Sonntag teilzunehmen.“ Ich sagte: Ich kann nicht. „Warum?“ Wegen Knieschmerzen. „Sofort zum Arzt!“ Der stellte nichts fest. „Marsch zum Start, feiger Simulant.“ Unser Lehrer war sauer, aber ich auch. Ich wollte nicht bloß laufen, ich wollte es ihm zeigen. Und ich wurde Zweiter. Zufällig sahen ein paar Leichtathleten zu und luden mich zum Training ein. So begann es.

Ab wann hat das Laufen Ihnen gefallen?

Sehr bald wollte ich besser und besser werden und wurde es – ohne Stil und ohne Technik. Viele lachten mich deswegen aus, aber mit Willenskraft setzte ich mich durch bis zum Weltrekord. Jahrelang war ich der beste Langstreckenläufer der Welt: ich, die Lokomotive. Als Kinder liefen wir oft um die Wette – vierzig, fünfzig Meter –, und der Gewinner war „Paavo Nurmi“, jenes legendäre finnische Symbol des Langlaufes. Mein Leben lang habe ich jeden Artikel über ihn gelesen, ich war wie bezaubert und wollte jede seiner Leistungen überbieten.

Welche Bedeutung haben Ihre Leistungen heute?

Meine Leistungen sind nichts im Vergleich zu heute. Ich war glücklich, wenn ich fünf Kilometer unter 14 Minuten lief. Heute steht der Weltrekord bei unter dreizehn Minuten – unglaublich. Wir waren Amateure, zu Wettkämpfen ins Ausland konnten wir nicht reisen. Wo hätten wir schlafen sollen – unter der Brücke? Heute kann ein Läufer aus Kenia oder Äthopien eine ganze Familie ernähren. Ihr Training beginnt mit dem Lauf zur Schule, bei uns fahren die Kinder mit dem Bus und sitzen vor dem Fernsehen. Aber damals wie heute bleibt das Laufen.

Wie trainierten Sie?

Laufen kann man überall. Ich war gerne in einem Wald mit flachem Boden; weil der weich ist, besteht keine große Verletzungsgefahr. Das habe ich geliebt. Intervalltraining gab es kaum.

Was denken Sie, wenn Sie laufen? Sind Sie einsam?

Man erwartet von sich eine gute Leistung, man bemüht sich, man denkt an das Rennen. Es ist eine einfache Sache: Dort ist der Start, dahinten das Ziel, dazwischen muß man laufen. Laufen ist schön, der Organismus erwartet das, er freut sich darauf. Beim Hundertmeterlauf gewinnt der Schnellste, aber beim Marathon gewinnt der, der sich am schnellsten erholen kann. Man darf nicht nur die Strecke sehen, sondern auch den Körper. Und einsam? Jeder Sportler ist Individualist. Es entscheidet die Begabung: Wer schnell ist, wird Sprinter, wer stark ist, wird Diskuswerfer, und wer weder schnell noch stark ist, wird Langstreckler.

In einem Werbespot sieht man Sie als Widerstandskämpfer 1968 auf dem Wenzelsplatz.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hieß es zwanzig Jahre „Die Sowjetunion ist unser Freund“. Auf einmal kam dieser Freund mit Panzern. Das war ein Schock für uns. Ich war damals Oberst bei der Armee, und die Leute fragten mich: „Was halten Sie davon, Herr Zátopek, Sie waren oft in der Sowjetunion.“ Und ich habe gesagt, daß im alten Athen die Waffen schwiegen während der Olympischen Spiele und die Sowjetunion demnach bei den anstehenden Sommerspielen in Mexiko nichts zu suchen hätte. Die Leute waren natürlich begeistert. Aber drei Tage später wurde ich vorgeladen und zum Oberst der Reserve „ernannt“. Aus war es mit den Vorteilen. Ich mußte im Uranbergbau arbeiten. Wir bohrten nach Trinkwasser, und ich lernte dort, daß die Erde nicht nur oben schön ist – unter Tage glänzt sie in allen Farben.

Waren Sie von dem Land enttäuscht, das Sie lange als Sportler repräsentierten?

Das ist eine sehr problematische Frage. Ich meine, wer durfte schon ausreisen, damals? Die Funktionäre haben mir das auch nach dem Auftritt auf dem Wenzelsplatz vorgeworfen: „So eine Schweinerei, du hast immer besser gelebt als andere und nie gefragt, was deine Reisen kosten. Und jetzt drehst du uns den Rücken zu.“ Irgendwo konnte man die auch verstehen.

Es war nicht leicht, sich mit Ihnen zu treffen. Bekommen Sie viel Besuch?

O ja, meist von Journalisten. Vor kurzem habe ich mit einem deutschen Fernsehsender etwas gemacht, seitdem kommen jeden Tag Briefe mit Autogrammwünschen und irgendwelchen Fragen. Es ist unmöglich, alles zu beantworten, und es ist genauso unmöglich, den Journalisten etwas Neues mitzuteilen. Ich glaube, ich habe alles schon erzählt. Seit kurzem habe ich Probleme mit den Beinen, aber von meinen Gegnern lebt nur noch der Franzose Alain June, alle anderen habe ich überrundet. Sie sehen, ich bin auch im Leben ein Langstreckenläufer. Interview: Wolfgang Jung